Die aktuelle Kritik

Musiktheater im Revier: "Jauchzet, Frohlocket!"

Von Helge Sigurd Kreisköther

Die sechs Kantaten des BWV 248 bilden Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium – allen Freund:innen der klassischen bzw. Chormusik ein Fest, und in der besinnlichen Zeit nicht seltener aufgeführt als Händels Messiah. Das Musiktheater im Revier und sein Generalintendant Michael Schulz lassen diesen Klassiker auf weitaus neuere Klänge von Carl Orff, Hanns Eisler und Arvo Pärt treffen. Dabei werden die Grenzen zwischen Konzert- und Opernerlebnis, Regietheater und Puppenspiel, biblischen und modernen Settings eingerissen.

Was vermag uns die Weihnachtsgeschichte heute noch zu erzählen? Hat sie wirklich eine zeitlose Botschaft, die Alt und Jung, Arm und Reich, Menschen über viele Jahrhunderte hinweg miteinander verbindet? Jeder kennt die Bethlehem-Story rund um die Geburt Jesu, weiß von Maria und Josef, der Krippe, den Heiligen Drei Königen und ihren Geschenken. In Gelsenkirchen gewinnt man nun jedoch – über die traditionelle Darbietung und szenische Aufbereitung des Weihnachtsoratoriums (1734/35) hinaus – einige neue, man möchte sagen: glaubens- und gesellschaftskritische Perspektiven auf diese denkwürdigen biblischen Begebenheiten.

So brechen Das Lied von der Moldau und das Lied einer proletarischen Mutter (beide von Eisler nach Bertolt Brecht; ausdrucksstark vorgetragen von der Sopranistin Bele Kumberger) nicht nur beispielhaft mit den barocken Hör-, sondern auch mit dramaturgischen Gewohnheiten (von wegen „Das geht auf jeden Fall gut aus“). Jesus mag zur Freude aller auf die Welt gekommen sein, aber wie gehen wir heute – weltweit – mit Kindern um? Hat unsere Gesellschaft überhaupt noch Kraft für einen Glauben?

Leider verpuffen die meisten wirklich innovativen Ansätze und Denkanreize spätestens mit der zweiten Hälfte dieses insgesamt knapp dreistündigen Abends, in der über weite Strecken – unterbrochen durch Passagen aus anderen Bach-Werken sowie Dario Fos Kindermord von Bethlehem (1992) – dann eben doch nur das BWV 248 erklingt. An sich wäre das legitim, hat man doch andernorts inzwischen längst erfolgreiche „Theaterfassungen“ von eigentlich nicht-szenischen Oratorien (Messiah, Die Schöpfung, Matthäuspassion) präsentiert; in diesem Fall hätte Michael Schulz (Dramaturgie: Anna-Maria Polke) aber auch von Vornherein auf die textlichen und musikalischen Fremdkörper verzichten können. So macht der Auftritt des von mehreren Schau- bzw. Puppenspielern zum Leben erweckten, ebenso riesenhaften wie dekadent ausstaffierten Bonifazius VIII. mitsamt Kristallschädel à la Damien Hirst (Kostüme: Renée Listerdal) Lust auf mehr Überraschendes. Die Hassrede des Papstes auf den „Ursprungsfanatiker“ Christus wird jedoch durch die Rezitative des Evangelisten (gut besetzt, wenngleich stellenweise mit schwammiger Deklamation: Adam Temple-Smith) auf die etablierte Bahn zurückgeführt.

Den Beginn und das Ende dieses intermedialen Musiktheaterabends markieren aufgezeichnete, schon zuvor und auch während der Pause über TV-Monitore im Foyer eingespielte Interviews mit (laut Angabe des Theaters 80) Gelsenkirchener Bürger:innen, von denen das Produktionsteam wissen wollte: Was bedeutet Erlösung? Ist die Vorstellung von einem „Erlöser“ irgendwie tröstlich bzw. zeitgemäß? Wie stellen Sie sich einen „Messias“ vor?

Beim Zusehen merkt man anhand der verschiedenartigen Antworten schnell, dass damit ganz ungezwungen theologische Fragen aufgeworfen werden, die nicht nur den Protestanten Bach mit dem Katholiken Carl Orff, dem russisch-orthodox geprägten Arvo Pärt, dem Juden Hanns Eisler und dem erklärten Atheisten Dario Fo verbinden, sondern eben auch Menschen unterschiedlichster Herkunft aus der Gegenwart, die sich nicht (zumindest nicht bewusst) permanent mit religiösen Phänomenen, dem Evangelium oder polyphonem Choralsatz beschäftigen. Das Stadttheater als Institution kann so etwas leisten: Eindrucksvoll zeigen, dass die tiefempfundene Freude über die Geburt Jesu, wie sie Bach im Weihnachtsoratorium ausbreitet (ganz im Kontrast zum Schmerz über die Leiden Jesu in seinen beiden großen Passionen), uns nach wie vor etwas angeht.

Das Puppenspiel (Entwurf und Bau: Martina Feldmann und Bodo Schulte) als solches nimmt bei Jauchzet, frohlocket!, entgegen der Erwartung, einen ziemlich geringen Raum ein: Es bleibt bei einer Kaukautzky-Puppe, die mit lilafarbenem Glitzer den herrschsüchtigen König Herodes darstellt, und zwei Kinderpuppen, nämlich einem blonden Jungen im karierten Hemd und seiner um einen Kopf kleineren Schwester oder Freundin, einer Puppet of Color, die er – dramaturgisch fragwürdig – am Ende der ersten Hälfte mit einer Pistole erschießt, nur damit sie sich in der zweiten Hälfte wieder lieb haben können. Diese zwei Puppen werden ungemein einfühlsam animiert, man begreift aber nicht, wen sie konkret repräsentieren oder was sie symbolisieren sollen. Dabei sollten im Zentrum der Inszenierung erklärtermaßen nicht zuletzt die Fragen stehen, wie wir heute mit Kindern umgehen, wie Kinder unter bestimmten (religiösen) Machtverhältnissen leiden und ob sich die Kirche – endlich – ihrer besonderen Schutzverantwortung gegenüber Heranwachsenden stellt...

Weiterhin bleibt der auffällige und durchaus virtuose Einsatz von Masken, etwa den überlebensgroß zusammengestückelten drei Weisen aus dem Morgenland oder den Soldat:innen des Kindermords, leider nicht mehr als optische Abwechslung, „dekorative“ Zwischenspiele ohne tieferen Sinn.

Wiederum zur großen Freude liegt die musikalische Leitung von Jauchzet, frohlocket! in den Händen von Alexander Eberle, der dank seiner unschätzbaren Chorerfahrung (gesammelt u. a. am Essener Aalto-Musiktheater) der richtige Mann für diese zahlreichen Bach-Auszüge ist (das vollständige Weihnachtsoratorium würde schon für sich knapp drei Stunden dauern). Aber auch das große Ganze, ergo das Zusammenspiel in den „unkonventionelleren“ Szenen wie den – etwas zu lauten und archaischen – von Carl Orffs Weihnachtsspiel (1960) abgeschauten Hexenreigen mit einer Menge Perkussion dirigiert Eberle souverän. Folglich bieten, obschon die Inszenierung nicht weiß, worauf sie hinaus möchte, sowohl der Opernchor des MiR als auch die Mitglieder der Neuen Philharmonie Westfalen einen ungetrübten Hörgenuss: Dieser stilsichere, schlank-federnde Bach-Klang (wohlgemerkt ohne historische Originalinstrumente) hat Seltenheitswert. Besonders hervorgehoben sei auch der Countertenor Etienne Walch, dessen Gestaltung der Altus-Partie Erinnerungen an die Referenzaufnahmen mit den Kollegen Michael Chance oder Andreas Scholl wachruft.

Letztlich kann dieser zu Dreivierteln barocke Abend in Gelsenkirchen Musikfreund:innen ans Herz gelegt werden, die in der vor-, hoch- oder nach-weihnachtlichen Zeit wunderbare Chorklänge genießen, sich auf durchaus bereichernde „Zutaten“ und erweiterte künstlerische Ausdrucksformen einlassen möchten. Über den Monat Januar hinaus dürfte man weniger in der Stimmung für dieses Stück sein – schließlich wollte schon Bach die Teile seines Weihnachtsoratoriums an den Feiertagen 24.-26. Dezember, am Neujahrstag, am Sonntag nach Neujahr und an Epiphanias aufgeführt wissen. Werktreuen Purist:innen oder Anhänger:innen schonungslos kritischen Regietheaters sei jedenfalls, ungeachtet des Datums, von einem Besuch abgeraten.

 

Jauchzet, Frohlocket!

Premiere: 4.12.2021

Weitere Termine: 11., 17., 25. und 30.12.2021

Inszenierung: Michael Schulz

Musikalische Leitung: Alexander Eberle

Bühne: Martina Feldmann

Kostüm: Renée Listerdal

Puppenentwurf, Puppenbau: Martina Feldmann und Bodo Schulte

Dramaturgie: Anna-Maria Polke

Fotos: Karl und Monika Forster

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1 Kommentar
Peter Waschinsky
12.12.2021

Musiktheater im Revier: "Jauchzet, Frohlocket!"

Vom MiR als "eindrückliches Zusammenspiel von Gesang und Puppentheater" angekündigt, blieb in der Inszenierungsrealität also von letzterem nicht viel übrig. Trotzdem hätte ich gerne die Namen der "ungemein einfühlsamen" Puppenspieler gelesen, nicht nur die der SängerInnen.
Über MiR-Generalintendant Schulz' Verhältnis zum Puppenspiel an sich und seinem MiR-Puppentheater konkret schreibe ich gerade etwas und frage: Handelt es sich bei diesem Ensemble um mehr als ein potemkinsches Dorf und einen Fördermittel-Popanz? Derzeit schon etwas dazu hier: https://www.generalanzeiger-waschinsky.de/index.php/blumen-und-tomaten/499-jugend-voran

(Ja, das war schon wieder ich - interessiert es sonst keinen?)

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