sputnic, Theater Bremen: "POST PARADISE. Eine Live Animation Cinema Anthologie zum Klimawandel"
Gespannt warte ich und mache es mir in meinem Sessel bequem – Theatererlebnisse zu Zeiten Coronas, ein anderer Raum entsteht im eigenen Raum. Pünktlich um 19h zeigt sich die Bühne des Brauhauses und vier Performer:innen an vier Visualizern erzählen anhand bunt collagierter Naturkundebücher von der Entstehung des Lebens auf dem Planeten Erde. Durch die Fotosynthese der Pflanzen entsteht aus Kohlenstoffdioxid Sauerstoff, der wiederum das Leben von Tieren und schließlich von Menschen ermöglicht – und da nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Denn der Mensch braucht Autos, Plastik und Fabriken, ein ganzes Arsenal bunter kleiner und großer Dinge, und bläst das ganze CO2 – zack – zurück in die Atmosphäre. Willkommen zu POST PARADISE, der Welt nach dem Klimawandel, von der das sputnic Kollektiv unter der Regie Nils Voges‘ in einer bildgewaltigen Inszenierung erzählt.
Unterschiedliche Stoffe von Märchen, Mythen, Augenzeugenberichten, Nachrichten, Reporten, Fakten und Zahlen aus verschiedenen Zeiten und Orten bilden eine Anthologie, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als Ausbeutungsgeschichte(n) skizziert. Naturbeherrschung, technische Innovation, Macht, Kolonialismus, Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus sind Schlagworte, die aber nicht nur plump genannt, sondern anhand detaillierter Miniaturerzählungen entfaltet und problematisiert werden. Eine Geschichte von menschlicher Gier und Machtstreben, Naturkatastrophen und Hochwasser, Dürren und dem Schmelzen der Polarkappen, unterlegt vom Sound von über 20 Musiker:innen.
Zentral ist dabei die filligrane Animationstechnik, die die Inszenierung zu einem wirklich unterhaltsamen Abend macht. Als Live Animation Cinema bezeichnen die Macher:innen die eigens entwickelte Technik. Diese zeichnet sich durch eine enge Verbindung zum Film aus, wie Dramaturg Sebastian Rest beschreibt: Wir sehen einen „Animationsfilm […], der allerdings während der Aufführung auf der Theaterbühne überhaupt erst hervorgebracht wird. […] Dabei werden die Animationsplatten abgefilmt. Die dafür verwendeten Kameras sind wiederum so miteinander verschaltet, dass zwischen ihnen hin und her geschnitten werden kann, wodurch der Schnitt-Effekt eines Filmes entsteht.“[1] Über 500 Animationsplatten kommen in POST PARADISE zum Einsatz, gestaltet von 10 Illustrator:innen und Comic-Zeichner:innen, sodass jede der 10 Handlungsstränge einen anderen Stil, eine neue Ästhetik mit sich bringt. Diese künstlerische Vielfalt unterhält und begeistert nicht nur Comicfans, sondern hält auch für Liebhaber:innen klassischer Figurenanimation kleine mechanische Gimmicks bereit, wie bewegliche Kiefer oder ein Augenlid, aus dem in einem Heilungsritual Spinnen, Eidechsen und Vögel herausfliegen. Mit größter Präzision bewegen die vier Spieler:innen die bunten Folien voreinander, übereinander, gegeneinander, erzeugen Bewegung, Wirbelstürme, kalifornische Waldbrände und eine beeindruckende Vogel-Flugperspektive auf die sagenumwobene Weltumrundung der Flugzeugpionierin und Frauenrechtlerin Amelia Earhart.
Hinzu kommt ein flutbarer Modell-Tisch in der Mitte der Bühne, der mit sämtlicher Bühnentechnik, Kameras, Monitoren, Beamer, aber auch mit Modellfiguren eine Fülle bildübergreifender Unwetter und Stimmungen erzeugen kann, sodass der Hurrikan von der Präsentationsfläche auf die Spieler:innen übergreift und mir als Zuschauerin so nah kommt, wie es eine Live-Übertragung nur vermögen kann.
Die Story um das Geschwisterpaar Thronja und Danaos zieht sich als Rahmengeschichte durch die Inszenierung und entwickelt sich als „The End of The World“ zur postapokalyptischen Dystopie. Eine Neuauflage von der Fischerin und ihrem Mann zeigt die auf patriarchale Strukturen zurückgeführte Verbindung von menschlicher Gier und Naturzerstörung deutlich auf. Zwar bekommt der gute Ingobill vom „Buttje Buttje in der See“ stets seine Wünsche erfüllt – ein größeres Haus, Geld, Macht, auch gottgleich darf er werden, die Materie bestimmen, die ihn umgibt. Doch als die arme Frau sich ein letztes Mal aufmacht, ist der Himmel tiefrot, das Wasser eine gefährlich brodelnde Sturmwoge und vom einst so prächtigen Fisch ist nur noch ein Grätenskelett übrig. Der letzte Wunsch bleibt unerfüllbar: Er wollte nun nur noch – glücklich sein.
Zwischendurch gibt es unter der Überschrift „Cloud Atlas“ anschaulich illustrierte Lach- und Sachgeschichten rund um Wetter, Klima und Cumuluswolken, die die Zusammenhänge zwischen menschlichem Tun und Weltverschlechterung so deutlich skizzieren, dass das Lachen immer schmerzhafter in der Kehle stecken bleibt.
Das virtuose Spielen, Sprechen, Streiten der vier Performer:innen ist wirklich eine Meisterleistung. Auch hier finden sich filmische Schnittpraktiken, sodass man den Spieler:innen im Live-Stream aus unterschiedlichen Positionen zum Bühnengeschehen bei der Live Animation auf die Finger schauen kann. Mal wird die Bühne als Ganzes sichtbar, die Spieler:innen stehen wie Djs an ihren Videopulten, mal erscheinen sie zusammengeschnitten als Bildzeile unter dem Bild, dann wieder tauche ich in das Vollbild der Präsentation ein.
In Ästhetik, Bildsprache und musikalischer Ausgestaltung besonders beeindruckend sind die Episoden um Drexciya. Die von der gleichnamigen Techno-Band in den 90er Jahren populär gemachte Sage erzählt von einer Spezies am Grunde des Atlantik, die sich aus den Babys der auf Schiffe verschleppten und wegen Arbeitsunfähigkeit über Bord geworfenen Schwangeren – eine verstörende Praxis zu Kolonialzeiten – entwickelt haben soll. Das "Schwarze Atlantis" wird in POST PARADISE als Gegenbild zur zerstörerischen Entwicklung der Menschheit skizziert, eine bessere Gesellschaft, die in Frieden und Einklang mit der Natur zu afro-futuristischen Klängen auf das Ende der unverbesserlichen menschlichen Zivilisation wartet.
Koloniale Verbrechen und deren Folgen bilden einen thematischen Schwerpunkt in POST PARADISE. Zwischen Bremen und Boston – „Broston“ – sucht ein verzweifelter Autor nach einer adäquate Erzählhaltung, um als weißer abled Mann über Ausbeutung und Rassismus zu sprechen: Wie können wir etwas jenseits unserer Perspektive sichtbar machen? Ist das nicht vermessen? Die Schwierigkeit des Sprechens-Über wird hier sehr klug als offene Frage verhandelt und mit einem ironischen Zwinkern gelöst: Antworten gibt ein Telefonat mit François in Kamerun, der sich den First-World-Problems ermutigend annimmt: „Steig in dein Schiff. Dein Schiff ist das der animierten Bilder.“
Entsprechend dem filmischen Vorbild verweben sich die zunächst getrennten Episoden im Stückverlauf. Mehrere Enden schließen die Großerzählung ab, wenn zumindest Danaos seine Rettung bei den Drexciyaner:innen in den Tiefen der Weltmeere findet und Greta Thunbergs Rede auf dem 19. UN-Klimagipfel anzitiert wird. Der Sprung aus Gretas Traum von einer besseren Welt in die Realität geht mit aufrührerischem Pathos einher, der sich seiner utopischen Message mehr als bewusst ist – und diese genau so meint. Könnten wir alles anders gemacht haben?
Ein beeindruckender Abend. Man möchte die Suchmaschine anwerfen und herausfinden, welche Erzählstränge, Zipfel und Motive Fiktion bzw. Realität zuzuordnen sind. Man möchte außerdem einen Blick in die Werkstatt werfen – wie haben sie das gemacht und wie lange hat‘s gedauert? – und man möchte sofort mitmachen. Bei einer besseren Welt, bei weniger Konsum, mehr Mitgefühl, Liebe und Harmonie mit Natur und Umwelt, man möchte sagen: Ja, es ist dann doch noch gelungen: Wir konnten alles anders gemacht haben.
Premiere: 14. Mai 2021, 19 Uhr Live-Stream
Weitere Termine folgen
Copyright Fotos: Jörg Landsberg
1. Foto: Fabian Eyer (vorne), Anne Sauvageot
2. Foto: Judith Goldberg
3. Foto: Frederik Gora
Team:
visual arts: sputnic
Regie und Text: Nils Voges
Text: Fabian Lettow
Bühne und Kostüm: Malte Jehmlich
Dramaturgie: Sebastian Rest
Darsteller*innen: Fabian Eyer, Judith Goldberg, Frederik Gora, Anne Sauvageot
Produktionsteam nach Episoden geordnet:
Cloud Atlas (in fünf Teilen)
Illustration: Julia Praschma
Musik: Nicolai Skopalik
Text: Nils Voges
The Ende of the World
Illustration: Aljosa Mujabasic
Musik: Ephemeral Fragments (Korhan Erel, Florian Walter, Emily Wittbrodt)
Text: Nils Voges
Shakespeares Sturm
Illustration: Silvia Brandt
Musik: OpusXX Orchestra (Vanessa Chartrand-Rodrigue)
Text: Fabian Lettow
Trans Pacific
Illustration / Text: Nils Voges
Musik: NAGEN (Philipp Maike)
Broston
Illustration: Jeff Hemmer
Musik: Horst Hansen Trio (Sebastian Ascher, Carsten Hackler, Linus Klitzing, Till Menzer, Lukas Weber)
Text: Fabian Lettow
Eyouwit & Eigigu
Illustration: Janna Zimmer
Musik: Jürgen Schwalk
Text: Nils Voges
Subatlantic
Illustration: Karl Uhlenbrock
Musik: RHODODENDRUM (Holger Brandt)
Text: Fabian Lettow
Basiert auf der afro-futuristischen Mythologie und den Charakteren der Techno Band Drexciya
Paradise, California
Musik: Nana (Edith Voges Nana Tchuinang)
Text-Montage: Nils Voges
Gretas Traum
Illustration: Silvia Dierkes
Musik: Kerstin Pohle
Text: Fabian Lettow
Drei Schwestern
Illustration: Nils Voges
Musik: François Alima
Text: Fabian Lettow