Die aktuelle Kritik

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen: "Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute"

Von Sarah Heppekausen

Die Sparte Puppentheater am MiR inszeniert Jens Raschkes Stück über den Holocaust für junges Publikum zart und feinfühlig.

23. Januar 2025

Die Stille im Saal ist beeindruckend. Und vor allem deshalb bemerkenswert, weil hier mehrere Schulklassen mit jugendlichem Publikum sitzen. Das mag am grausamen Thema liegen – die Verfolgung und brutale Ermordung unschuldiger Menschen im Nationalsozialismus. Das mag aber auch an der schlicht-schönen Bühne von Julia Bosch liegen, auf der nicht viel mehr als Gleise, Schneeflocken und schwarz-weiße Videobilder im Hintergrund zu sehen sind. Nichts ist schrill, jeder Schrei würde hier geschluckt. Und das mag vor allem am eindringlichen Spiel der Puppenspieler*innen und ihrer Tierfiguren liegen.

Am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier inszeniert Ania Michaelis Jens Raschkes sensibles Theaterstück für junges Publikum „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“. Und sie bringt dieses Thema der brachialen Gewalt so zart und einfühlsam auf die Bühne, dass die knapp anderthalbstündige Inszenierung schmerzt wie kleine Nadelstiche auf der Haut.

"Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute": Gloria Iberl-Thieme, Maximilian Teschemacher, Daniel Jeroma © Bettina Stöß

Schon der Anlass für das Stück klingt absurd, zynisch und unmenschlich. Autor Jens Raschke erfuhr von einem Zoo, der 1938 direkt neben das Konzentrationslager Buchenwald gebaut wurde – zur Unterhaltung der KZ-Aufseher. „Sie sind dort mit ihren Familien spazieren gegangen, während zehn Meter weiter der Zaun zum Lager stand. Man hatte eine direkte Sicht auf das Lager“, sagte Raschke in einem Interview. Er erzählt seine fiktive Geschichte aus Sicht der Tiere. Da gibt es den Pavian, der gehorsam wegschaut, unter den Tieren aber gerne für Recht und Ordnung sorgt. Das wütende Mufflon, das nachdenkliche Murmeltier und den Bären, der es eben nicht lassen kann, über den Zaun zu blicken und sich und die anderen zu fragen, was denn dort mit den „Gestreiften“ passiert.

Das Stück ruft quasi nach der Sparte Puppentheater, die es seit 2019 am MiR gibt. Lili Laube hat leuchtende Figuren gebaut (in Gelb das Murmeltier, in Rosa der Pavian, in Grün der Bär), wie Kuscheltiere mit ernst-kritischen Gesichtern. Maximilian Teschemacher, Gloria Iberl-Thieme und Daniel Jeroma spielen sie so liebevoll – murmelnd, fauchend, brummend, fragend und fluchend –, dass hier die doppelte Kraft des Figurentheaters stets sichtbar wird, nämlich in der Einheit von Figur und Puppenspieler*in, die zweifach wirkt: in der lebendig gewordenen Figur und im Spiel der Spieler*innen, die mal allein, mal zu zweit oder zu dritt eine Figur bewegen und ab und an ihre Puppen sogar tröstend in den Arm nehmen.

"Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute": Maximilian Teschemacher, Gloria Iberl-Thieme © Bettina Stöß

Es wird nicht gut ausgehen für den Bären, der anfangs noch Witze erzählt, bis ihm übel wird vom Gestank aus dem Lagerschornstein, der Fragen stellt und zu lange Blicke riskiert. Dem auffällt, dass es keine Vögel mehr in den Bäumen gibt. Der den kleinen Jungen auf der anderen Seite des Zauns sieht. Der ein „man muss sich halt anpassen“ nicht akzeptieren will. Wenn er deshalb zu zittern beginnt, lassen die Spieler*innen Eimer klappern. Solche eindrücklichen Stimmungen unterstützen auch die live gespielte Bassklarinette und die Live-Kamera. Da sind dann das Gesicht des Bären oder die Mienen der Spieler*innen im Großformat auf der Leinwand zu sehen. Die Gleise werden länger, das Schneetreiben wirbelnder. Wenige, aber effektive Mittel in einer bemerkenswert feinfühligen Inszenierung zu einem großen Thema. Möge die Theaterarbeit in diesen Zeiten ihre Wirkung zeigen!


Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen: "Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute"

Von Jens Raschke

Inszenierung Ania Michaelis | Musik Matthias Bernhold | Bühne und Kostüm Julia Bosch | Puppenbau Lili Laube | Licht Andreas Gutzmer | Ton Max Kallien | Live-Kamera Sophia Dorra, Kira Skender | Dramaturgie Anna-Maria Polke | Puppenspiel Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma, Maximilian Teschemacher | Bassklarinette Clarissa Schmitt, Ange Sierakowski

Premiere: 17. Januar 2025
Für Menschen ab 11 Jahren
Dauer: 80 Min.

Infos und Tickets auf der Website des MiR