Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen & HfS Ernst Busch Berlin: „Schlafes Bruder“
13. März 2025
Eigentlich war die Geschichte von „Schlafes Bruder“ nach dem Roman von Robert Schneider aus dem Jahre 1992, dem folgenden Vilsmaier-Film und der Züricher Willi-Oper (beide 1995) schon abgearbeitet. Doch nun erlebt sie in Bautzen eine unerwartete Wiederauferstehung: als Koproduktion der Abteilung Zeitgenössische Puppenspielkunst der Ostberliner Ernst-Busch-Hochschule mit dem Deutsch-Sorbischen Volkstheater – ausgetragen in der historischen Taucherkirche von 1599, deren Friedhof reichlich 500 Jahre Geschichte spiegelt – als „Spiel mit Menschen, Objekten und einer Orgel für Jugendliche und Erwachsene“.
Es geht, erzählt als Reprise, just zweihundert Jahre zurück in ein Inzestdorf in Vorarlberg, wo ein Jüngling namens Elias per Eingebung ein absolutes Gehör und außergewöhnliche Gesangsqualitäten erhält und sich als Zwölfjähriger quasi pränatal (fast) unsterblich in seine noch ungeborene Cousine Elsbeth verliebt. Deren Bruder Peter missfällt dieser Umstand allerdings sehr, denn er ist dank Unterdrückung früh zum jähzornigen Brandstifter des eigenen Hofs geworden und er würde Elias, den einzigen Zeugen seiner Tat, gern selbst als besten Freund behalten. Doch der ist erleuchtet: Wer liebt, schläft nicht ...
Der Altar ist eingehegt von schneeweißen Gardinen, Elias wird mit Beginn der eigentlichen Geschichte vom Kreuz gepflückt, die Spielebene der beiden Gliederpuppen ist nicht nur vorn, sondern umfasst den ganzen Kirchenraum bis hoch zur rückwärtigen Orgelempore. Umschlossen wird die Geschichte von einer Jetztzeitstory zwischen einem Kantor als Orgelgott und einer hübschen Spontanbesucherin, die hier, in der evangelischen Gemeinde, unbedingt sofort beichten muss, denn: wer schläft, liebt nicht. Der logische Rekurs zur gebotenen Originalgeschichte aus Roman wie Film.
"Schlafes Bruder": Marharyta Pshenitsyna, Tizian Steffen © Roman Koryzna
Es ist die Diplominszenierung von Tizian Steffen, gebürtiger Dessauer des Jahrgangs 1991 und vorm Studium dort über acht Jahre als Regieassistent mit Spielverpflichtung an seinem Heimattheater engagiert, um nebenher Kirchenmusik zu studieren und es zu beachtlicher Orgelbeherrschung zu bringen. Er ist wie sein Regisseur Kerem Hillel und seine Dramaturgin Mona Schlatter Mitglied vom „Ensembles ßahar“, das sich seit einigen Jahren mit der Verbindung von Puppen- und Musiktheater beschäftigt und sich dabei Schönbergs „Pierrot Lunaire“ und Debussys’ „L'enfant prodigue“ widmete. Nun also das fiktive Schicksal von Johannes Elias Alder, hochbegabter Orgelspieler, der sich nach schwerer Kindheit mit 22 Jahren per Tollkirsche Schlafes Bruder, also dem Tod, widmet.
Neben der Technikbrigade aus dem Bautzner Burgtheater, dem ersten Neubau einer Ost-Puppenbühne seit der Wende, wo die etablierteste Puppensparte Sachsens, vor 64 Jahren auf sorbischer Tradition begründet, ihren Sitz hat, ist Ensemblemitglied Marharyta Pshenitsyna dabei. Auch sie ist Berliner Busch-Absolventin und spielt ebenso dynamisch wie Tausendsassa Steffen mit: bei der Animation der beiden Gliederpuppen, aber auch als Entsprechung von Elsbeth als lebensgroße, quasiheilige Halbbüste (Bühne und Puppenbau obliegen Frieda Kirch und Merlin Messenbrink von der Dresdner Hochschule der Bildenden Künste) und bei der Rahmenhandlung als Kirchgängerin. Sie gibt auch mit Inbrunst die Dorfhure Burga, die sich in den Wald gelockt, "wie eine Sau im Schlamm“ zu wälzen hat, um endlich ihren geliebten Gottfried (den Elias im Schatten der dunklen Lichtung imitiert), zum Manne zu bekommen – diese Verarschung als Sündenfall von Elias, angestiftet von Peter, der alles tut, damit sein Cousin nicht unter weibliche Hände gerät, wird von ihr in natura fast nackt auf dem (Bühnen-) Altar zelebriert – was den unkonventionellen, eigentlich sogar mutigen Ansatz von Hillel, der gemeinsam mit Schlatter die Konzeption verantwortet und die Fassung schrieb (und mit Steffen die Kostüme schuf), unterstreicht.
"Schlafes Bruder": Tizian Steffen (vorne), Marharyta Pshenitsyna (hinten) © Roman Koryzna
Beide lassen Pshenitsyna und Steffen nicht nur stets durch die gesamte Kirche eilen, dabei beide Kanzeln, diverse Fenster und auch die Empore bespielen, sondern Steffen auch sein Orgelkönnen einflechten und als Wanderprediger eine fluffige Shownummer im Glitzerkostüm zum Klavier zelebrieren, wobei Komponist Andrea Miazzon weitere Einspielungen liefert. Immer wieder lösen sich Spieler und Figuren voneinander, der nackte Elias wird dabei als Puppe ab und an dank Klickgelenken von Gliedmaßen befreit und spielt auch mal als Charakterkopf weiter, während Peter weißgewandet daher hetzt. Ohne Puppenkontakt ist das Geschehen in der Jetztzeit der Rahmenhandlung – das Geschehen funktioniert als Story weitestgehend plausibel, wobei die Charaktere der seltsamen Grundgeschichte in ihrer kruden Abstraktion kaum Empathiepunkte erringen können. Die Faszination Tizian Steffens für den Romanstoff Schneiders, der aus heutiger Sicht ziemlich relevanzbefreit in neoromantischem Pathos schwelgt, dürfte sich auch im Nachgang nicht jedem Besucher erschließen.
Aber Bautzen ist wie die ganze Oberlausitz in Sachen religiöser Toleranz traditionell schon seit böhmischen Zeiten ein positiver Sonderfall – die geweihte Kirche sei laut Pfarrer während der Inszenierung ein reiner Theaterraum. Immerhin sechs Inszenierung sind bis Sommer und weitere sechs in der nächsten Spielzeit geplant – man darf auf die Wirkung in die Stadt hinein gespannt sein. Und auch, ob es gelingt, die beeindruckende Intensität dieser Premiere über die Zeit beizubehalten.
Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen & HfS Ernst Busch Berlin: „Schlafes Bruder“
Regie Kerem Hillel | Musikalische Leitung Andrea Miazzon | Puppen & Bühne Frieda Kirch, Merlin Messenbrink | Kostüme Kerem Hillel, Tizian Steffen | Dramaturgie Mona Schlatter, Karoline Wernicke | Spiel Marharyta Pshenitsyna, Tizian Steffen
Premiere: 8. März 2025, Taucherkirche Bautzen
Dauer: ca. 85 Minuten
Weitere Infos und Spieltermine auf der Website des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen