Über die (Nicht-)Verwendung von Sprache in Santa Pulcinella und The Storyville Mosquito
In beiden Aufführungen haben die Charaktere zwar angedeutete Stimmen, welche durch verschiedene Klänge repräsentiert werden, sprechen jedoch keine verständlichen Worte. Trotzdem gelingt es den Zuschauer*innen, den Lauten diverse sprachliche Feinheiten, Emotionen und sogar Persönlichkeiten zuzuordnen. Die Gründe, in einer Inszenierung auf Sprache zu verzichten, können vielfältig sein und die Entscheidung, dies zu tun, wirkt sich in Santa Pulcinella und The Storyville Mosquito unterschiedlich auf die Wirkung des Stücks aus.
The Storyville Mosquito und die Ästhetik des Unbekannten
In The Storyville Mosquito gibt es verschiedene Ansätze, wie Figuren mit einer Stimme versehen werden. Da in der Inszenierung die handelnden Figuren von Lebensmitteln bis hin zu Tieren und insbesondere Insekten reichen, gibt es hier eine Fülle an Möglichkeiten, aus denen geschöpft wird. Die Tiere machen recht simpel die für sie typischen Laute. Sie agieren als Hintergrundcharaktere und es ist ihnen nicht vergönnt, von einem Instrument oder sogar einer Melodie repräsentiert zu werden. Anders der Mosquito selbst: Er wird immer von einem Leitthema begleitet, welches stark an die Geräusche einer Mücke erinnert. Harsch unterbrochen wird die sanfte Streichermelodie vom penetranten elektrischen Geräusch, das die strenge Avocado von sich gibt, die ihm anfangs ständig das Leben schwer macht.
Warum nun aber sprechen die Charaktere nicht einfach? The Storyville Mosquito ist stark an die Ästhetik von Stummfilmen angelehnt. Clever wird hier mit dem Genre gespielt, da man statt Menschen Insekten auftreten lässt. Bei diesen erscheint es den Zuschauer*innen nicht ungewöhnlich, wenn sie nicht reden. Vor allem für ein jüngeres Publikum wird so das Genre des Stummfilmes zugänglicher gemacht. Auch muss man als Zuschauer*in dem Bühnengeschehen mehr visuelle Aufmerksamkeit schenken, da man sich nicht auf gehörten Dialog verlassen kann. In einer Welt, in der Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer werden, sorgt eine Inszenierung, bei der man sich wirklich auf das Geschehen konzentrieren muss, für erfrischende Abwechslung.
Der Reiz der Inszenierung wird außerdem dadurch ausgemacht, dass die typischerweise untergeordneten Insekten die Hauptrollen spielen. Vor allem der verhasste Mosquito wird durch seine liebenswerte Darstellung aufgewertet. Nun muss man diese Figuren irgendwie nahbar machen, menschlicher machen, doch sie ganz wie ein Mensch wirken zu lassen, könnte vielleicht den gewünschten Effekt der Aufwertung verringern. Um die Figuren nicht zu sehr zu vermenschlichen, muss ihnen deswegen vielleicht das Element der Sprache genommen werden. Warum sollte man sonst überhaupt Insekten auftreten lassen, wenn sich diese dann doch ganz genauso verhalten und reden wie Menschen?
Außerdem nicht zu vergessen ist, dass in The Storyville Mosquito ein großer Fokus auf die Musik gesetzt wird. Nicht nur ist Kid Koala Musiker und möchte dies natürlich in die Inszenierung einfließen lassen, sondern auch im Leben des kleinen Mosquitos geht es um Musik. Er spielt sein Instrument und möchte unbedingt seine Lieblingsband live in Sid Villa‘s Music Hall sehen. Er trainiert sogar fürs Casting, um dort selber einmal zu spielen. Musik und die Liebe zu dieser sind Hauptaspekte der Handlung und stehen thematisch im Vordergrund. Deshalb wird die Musik in der Aufführung auch ganz besonders in Szene gesetzt. Kid Koala selbst, sowie ein Streichertrio performen den Soundtrack live auf der Bühne, nicht versteckt, sondern im Zentrum des Bühnengeschehens, wo das Publikum sie sehen kann. Die Musik kommuniziert bereits alles, was benötigt wird, und ist dadurch mehr als nur Hintergrundmusik: Sie beinhaltet Motive, vermittelt ein Gefühl und verleiht den Charakteren eine Stimme, wenn sie eine brauchen.
The Storyville Mosquito © AJ Korkidakis
Wenn in The Storyville Mosquito nun die Musik ausreicht, um all das zu vermitteln, muss sich unumgänglich die Frage gestellt werden, was Sprache einem Stück überhaupt gibt. Zuallererst vermittelt Gesprochenes Informationen. Nicht nur die Figuren untereinander tauschen durch eine Unterhaltung Wissen miteinander aus – auch den Zuschauer*innen kann so einfach und direkt die Handlung nähergebracht und Konflikte erklärt werden. Das Publikum kann in die Gedankenprozesse der handelnden Figuren eintauchen, da diese ausgesprochen werden, und so ein Verständnis für die Charaktere entwickeln. Weiterhin werden durch Dialog zwischenmenschliche Beziehungen zwischen den Charakteren definiert. Wie sie miteinander umgehen, ob sie freundlich oder abweisend sind, wie und was sie mit und übereinander besprechen: All das ist Teil des komplexen Beziehungsgeflechts, in dem sie handeln.
Santa Pulcinella und die Komik des Implizierten
Anders als in The Storyville Mosquito gibt es in Santa Pulcinella von Théâtre Gudule diese zwischenmenschlichen Beziehungen nicht. Doch Vorab: Wie wird Sprache in Santa Pulcinella überhaupt kommuniziert? Pulcinella selbst gibt ein trötenähnliches Geräusch von sich. Dieses ist mal höher, mal tiefer und imitiert erfolgreich Feinheiten der menschlichen Sprache. So kann beispielsweise Enttäuschung vermittelt werden, wenn ein Ton hoch startet und tiefer endet. Auch Lachen wird häufig durch wiederholtes kurzes Spielen eines hohen Tons impliziert. Bei den anderen Figuren sind solche Andeutungen ebenfalls zu erkennen. Die Stimme des Geistes klingt menschlicher als Pulcinellas. Aus den tiefen, grummelnden und murmelnden Lauten, die er macht, scheint man manchmal sogar Worte herauszuerkennen. Diese bleiben dennoch immer vage genug, um Interpretationsspielraum zu lassen.
Die Beziehungen zwischen den handelnden Figuren sind bereits durch ihre simple und einseitige Charakterisierung vordefiniert. Pulcinella ist der italienische Vorgänger des deutschen Kaspers und verkörpert klischeehaft einen gewalttätigen Fresser und Säufer. Er prügelt sich gern mit allem und jedem, ist gewitzt und trickst andere aus. Diese Eigenschaften definieren sofort, wie er zu allen anderen Figuren stehen wird und wie diese von ihm behandelt werden. Der Geist versucht gruselig zu sein und andere zu erschrecken. Auch hier ist bereits im Vorhinein klar, wie er mit anderen Charakteren umgehen wird. Die Figuren müssen nicht miteinander sprechen, damit deutlich wird, wie sie zueinanderstehen: Zu sehen, wie sie sich verhalten, genügt. Das funktioniert nur, weil die Beziehungen der Charaktere zueinander nicht komplex sind und auch nicht sein sollen. Der Fokus liegt in der Inszenierung nicht darauf, eine dramatische Geschichte mit Spannungsbogen und komplexen Charakteren aufzubauen. Der Fokus liegt darauf zu unterhalten.
Das Nicht-Verwenden von Sprache trägt in Santa Pulcinella maßgeblich zur Komik bei. Großer Fokus wird auf das Show-don‘t-tell-Prinzip gelegt, bei dem etwas gezeigt wird, anstatt es zu beschreiben, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen zu gewinnen. Wie lustig wäre die Aufführung noch, wenn Pulcinella seine Gedanken laut aussprechen würde? Die Komik entsteht dadurch, dass man ihm praktisch beim Denken zusehen kann und er dann ohne vorzuwarnen handelt. Hinzu kommt noch, dass die Geräuschkulisse selbst – vor allem für ein Publikum welches vorrangig aus Kindern besteht – bereits lustig ist. Die Zuschauer*innen lachen, wenn sie ein Geräusch der Enttäuschung von Pulcinella zu erkennen scheinen oder wenn der Geist etwas von sich gibt, was verdächtig nach einem „Buh!“ klingt.
Chancen jenseits des Sichtbaren
Das Weglassen von Sprache wirkt sich in den beiden Stücken unterschiedlich auf den Eindruck der Inszenierung aus. Jenseits der Wirkung auf das Publikum gibt es jedoch noch weitere Chancen, die sich beim Verzicht auf Sprache in einer Inszenierung auftun.
Nicht jedes Problem, auf das man beim Schreiben stößt, kann gelöst werden, indem man es dem Publikum durch Dialog oder Narration erklärt. So muss man sich, aus Künstler*innen-Perspektive, beim Schreiben des Stücks mehr – oder andere – Gedanken über die Handlung machen und, wie diese vermittelt werden soll. Dies führt zu einem kreativeren Prozess des Schreibens, welcher unkonventionelle und innovative Lösungen findet, die die Geschichte bereichern. Ein daraus entstehender Vorteil ist zusätzlich, dass Handlungsfehler schnell erkannt und überarbeitet werden können: Auf der Handlung liegt das Hauptaugenmerk und es fällt sofort auf, wenn diese nicht mehr funktioniert.
Außerdem gibt es ohne die Verwendung von gesprochener Sprache keine Sprachbarriere, das heißt jede*r kann sich die Inszenierungen ansehen und verstehen. Es entsteht eine wunderbare Form der Verbindung zwischen Menschen mit den verschiedensten Sprachhintergründen, denn alle, Erwachsene und Kinder, sehen dasselbe und können auf derselben Ebene darauf zugreifen. Vor allem im Kontext des Fidena-Festivals, welches ein internationales Publikum anlockt, ist dies vorteilhaft. Die eigene Arbeit muss man nicht übersetzen und Übertitel lenken nicht vom Geschehen ab. Unabhängig von Herkunft und Alter können Menschen zusammenkommen, gemeinsam fühlen, lachen und Figurentheater genießen.
Titelfoto: Santa Pulcinella © Marta Pelamatti