Die aktuelle Kritik

Cie. ZEIT/GEIST, FITZ Stuttgart: "Nadezhda"

Von Petra Mostbacher-Dix

„Nadezhda“ nennt die Cie. ZEIT/GEIST ihr „figurales Tanztheaterstück über den Verlust des Eigenen und die Hoffnung“ im FITZ, das unter die Haut geht.

17. Mai 2024

Wie Gräser im Wind oder Schilfgras in den Wogen. So leicht und elegant schwanken die Körper der zwei Frauen, die da zu Meeresrauschen und Vogelgeschrei zwischen den Seilen stehen wie auf dem Bug eines Schiffs. Ruhig geht ihr Blick nach vorne – Richtung Zukunft. Rückwärts bewegt sich eine dritte Frau jenseits der Takelage an Land. Durch Kleider auf Bügeln schlängelt sie sich hurtig, hält achtsam eine kleine Holzfigur in den Armen.

Den Wind von Aufbruch und Ankunft, Flucht und Freiheit lassen die Performerinnen Aurora Bonetti, Bar Gonen und Eva Baumann schon durch die erste Szene von „Nadezhda“ wehen. Geht es doch im „figuralen Tanztheaterstück“ der Cie. ZEIT/GEIST von Eva Baumann, das im FITZ Theater animierter Formen uraufgeführt wurde, um den Verlust des Eigenen, um Hoffnung und die Frage nach der Heimat, den Wurzeln und ob man diese auch anderswo schlagen kann.

„Nadezhda“ ist der zweite Teil ihrer Trilogie ZEIT/GEIST, in der sich die Choreographin und Tänzerin Baumann mit der Psychologie des Fremd-Seins beschäftigt. Ging es in Part eins „alieNation oder: Strangers in a world that they themselves have made“ um die Entfremdung in einer zunehmend virtuellen Gegenwart, schaut sie nun zurück in familiäre Vergangenheiten der eigenen Erinnerungen und Überlieferung, die sich überlagern und beeinflussen.

 "Nadezhda": Aurora Bonetti, Eva Baumann und Bar Gonen (v.l.n.r.) © Ingo Jooss

Inspirationen für Baumann gab es viele, nicht zuletzt auch aus dem Team. Bar Gonens Vorfahren etwa migrierten vom rumänischen Galați über Zypern nach Israel. Einen großen Beitrag zur Recherche leistete die Szenografin, Kostüm- und Bühnenbildnerin Katrin Wittig, deren Familie aus dem böhmischen Brüx, heute Tschechien, stammt. Eva Baumann wiederum fand nach vielen Monaten heraus, woher ihre Großmutter Frieda kam: aus Eigenfeld, heute Vovkivs'ke nordöstlich von Odessa. Von dem ukrainischen Dorf musste sie 1944, damals 17 Jahre alt als „Schwarzmeerdeutsche“ vor der russischen Armee flüchten. Sie war eine der vielen, die durch die Grauen des Zweiten Weltkriegs zu Vertriebenen wurden. Doch die waren im Deutschen Reich nicht willkommen. Und trotzdem wagten sie es nach dem Weltenbrand, 1945 in der Bundesrepublik ein neues Leben aufzubauen.

Das Eigene zu verlieren, in der Fremde zunächst fremd zu sein, im Unbekannten zu versuchen, eine neue Heimat zu finden, das ist höchst aktuell und gleichzeitig eine uralte Menschheitsgeschichte. Baumann, ihre Mitspielerinnen und ihr Team – dazu gehören noch der Musiker Roderik Vanderstraeten, die Figurenbauerin Verena Waldmüller, der Lichtkünstler Ingo Jooß und Coach Julika Mayer – erzählen das mit eindrücklichen Bildern, Klängen und Atmosphären, die unter der Haut bleiben.

 "Nadezhda": Aurora Bonetti und Eva Baumann © Ingo Jooss

Etwa wenn die drei Frauen Blumengirlanden schwingend in traditionellen Reigen über die Bühne toben, mal in Shorts, mal in bunten Trachtenröcken. Wenn sich die Schiffsseile erst zur Leine für die große Wäsche, dann zu einer Art Trapez wandeln, auf dem man sich wie beim Kite-Surfen hineinlegen kann, um sich dann – die Augen gen Himmel – womöglich wie Ikarus zur Scheinwerfersonne aufzuschwingen. Wenn Baumann, Gonen und Bonetti die Kleider – vom langen Schwarzen der Jahrhundertwende über das 50er-Jahre-Geblümte bis zum Business-Look – bestaunen und liebkosen, wie eine sehnsuchtsvolle Erinnerung oder Zukunftsvision, dann in sie hineinschlüpfen und die mit ihnen verbundenen Leben zu erfahren versuchen. Wenn das Trio mit drei harten Schnitzgesichtern, zuvor aus drei Eiformen geschlüpft, tanzt, um hernach die Eierschalenhälften vor das Gesicht zu halten und in Anonymität zu verschwinden. Oder wenn sie Wasser in Wallung bringen zu Bedřich Smetanas „Die Moldau“. Es ist eine so mitreißende wie feinfühlige Klanglandschaft aus Klassikern von Beethovens „Mondscheinsonate“ und Volksweisen über Tangos und Landschaftsatmosphären bis zu Wortträumen von „Sicherheit“ und „ein bisschen Wohlstand“ in mehreren Sprachen, in die Komponist Vanderstraeten die Geschichte von Migration und Vertreibung bettet.

Dass fröhlich getanzt wird zu rumänischen und ukrainisch-jiddischen Liedtexten, die von Schmerz und Abschiednehmen müssen handeln, ist auch eine Hommage an die Resilienz der Menschen und deren Lust nach Leben. Eva Baumann recherchierte dazu Musik der Zeit von Interpretinnen und Interpreten, die im Exil ihre Kunst ausübten. Die Sängerin Sarah Gorby sowie die Tenöre Richard Tauber und Adam Aston wurden von den Nazis verfolgt. Baumanns „Nadezhda“ ist universal zu lesen. Ihr geht es auch um gutes Ankommen und Neubeginn: Die russisch-ukrainische Übersetzung von „Nadezhda“ lautet Hoffnung.


Cie. ZEIT/GEIST, FITZ Stuttgart: „Nadezhda

Kreation, Tanz, Figurenspiel: Eva Baumann, Bar Gonen, Aurora Bonetti | Musik, Soundbearbeitung: Roderik Vanderstraeten | Recherche, Objekte, Kostümbild: Katrin Wittig | Figurenbau: Verena Waldmüller | Bühne: Eva Baumann, Katrin Wittig | Licht, Technik: Ingo Jooß | Coaching Figurenspiel, Outside Eye: Julika Mayer | Künstlerische Leitung, Recherche, Choreographie: Eva Baumann

Premiere: 18.04.2024
Dauer: 90 Min.

Nächste Termine und Infos auf der Website des FITZ Stuttgart

 

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