LOCO – Zwischen Halluzination und Realität
Noch steht auf der Bühne nur ein Bett. Unter der Bettdecke ist eine Gestalt zu erahnen, eine Gestalt, die bald geweckt werden soll von zwei Frauen, die jetzt die Bühne betreten. Sie begeben sich zum Bett, beugen sich herunter und flüstern einige Male einen Namen: „Poprischtschin, Poprischtschin!“ Damit erwacht der Schlafende wortwörtlich zum Leben, gesteuert von seinen zwei Puppenspielerinnen Mate Pereira und Tita Iacobelli.
Die lebensgroße Puppe wird von beiden Spielerinnen gleichzeitig bespielt, dabei übernehmen beide abwechselnd die Rolle seiner Beine, und beide steuern jeweils einen Arm. Der Torso wird auf Brusthöhe gehalten und der Kopf darüber mit einer Hand gesteuert. Mit beeindruckender Koordination sind die beiden Puppenspielerinnen beim Bespielen der Puppe aufeinander abgestimmt, jede Bewegung geht fließend ineinander über und ein stimmiges Gesamtbild entsteht.
Poprischtschin stellt sich dem Publikum als einfacher Kopierer vor, welcher auf der Arbeit Tag ein Tag aus nichts anders macht als Formulare zu kopieren. Er erzählt aus seinem Alltag, von seinem strengen Vorgesetzten und seinem eintönigen Beruf, während er aufsteht und sich auf die Arbeit vorbereitet. Auf dem Weg dorthin dann bemerkt er eine Unterhaltung zwischen zwei Hunden und ist erstaunt zu erfahren, dass ein Hund dem anderen einen Brief geschrieben haben soll. Das Gespräch stuft er zwar als untypisch ein, sinniert aber im Weiteren darüber, wie es möglich sei, dass ein Hund einen Brief schreibe, da dies, grammatikalisch korrekt, nur möglich sei, wenn man eine Schule besucht habe. Dann bemerkt er auch die Besitzerin eines der Hunde, Sophie, die Tochter seines Vorgesetzten, in welche er schwer verliebt ist. Die Liebe scheint einseitig zu sein, während Poprischtschin über Sophies Schönheit schwärmt, bringt diese ihm keine Aufmerksamkeit entgegen.
Im Verlauf der Inszenierung fällt auf, dass mit Poprischtschin irgendetwas nicht stimmt, schon zu Beginn hört er immer wieder Geflüster in seinem Ohr, welches ihm nur mit Schwierigkeiten gelingt auszublenden. Er erlebt auditive sowie visuelle Halluzinationen, welche immer weiter an Intensität zunehmen. Eines Nachts erscheint ihm ein riesiger Fisch in seinem Bett, der zu schweben beginnt und dann davonschwimmt. Seine Tage verlaufen weitgehend normal, er geht zur Arbeit, bewundert Sophie und besucht das Theater, doch des Nachts verfällt Poprischtschin in immer stärkere Episoden der Halluzination. In einer weiteren Nacht unterhält er sich in seinem Bett mit einer Kreatur aus Kissen, welche ihn tröstend in den Arm nimmt und welcher er seinen größten Wunsch offenbart, Sophies Zimmer besuchen zu wollen.
Die Tatsache, dass Poprischtschin von zwei Puppenspielerinnen verkörpert wird, wird in der Inszenierung clever genutzt, um seinen Wahn und seine verdrehte Selbstwahrnehmung darzustellen. Wenn Poprischtschin Stimmen hört, flüstern ihm seine Schauspielerinnen die Worte wirklich ein, manchmal beugen sie sich auch über seine Schultern, wagen sich aus dem Versteck hinter seinem Kopf hervor und starren intensiv ins Publikum. Dass die Spielerinnen abwechselnd die Rolle seiner Beine übernehmen, wirkt zu Anfang wie eine witzige Idee, um mit der Bewegung des Charakters zu spielen, bekommt aber im Verlauf des Bühnengeschehens eine bedeutsamere Rolle zugeschrieben. Mit Voranschreiten seines Wahns bemerkt Poprischtschin irgendwann, dass mit seinen Beinen etwas nicht stimmt. Plötzlich nimmt er mehr als nur seine zwei Beine wahr, links da ist noch eins und rechts auch. Woher kommen diese Beine? Wem gehören sie? Poprischtschin beginnt sich in seiner Vielheit wahrzunehmen, beginnt beinahe die vierte Wand zu durchbrechen und seine Schauspielerinnen als solche zu erkennen, doch schafft es sich wieder zu sortieren, seine Beine zu ordnen und die übrigen Beine für sich wieder auszublenden.
Ein einschneidender Moment für Poprischtschin ist der, in dem er die zu Anfangs erwähnten Briefe der beiden Hunde aneinander zu lesen bekommt. Zunächst ist er erstaunt, dass die Briefe tatsächlich grammatikalisch korrekt und sogar mit richtiger Groß- und Kleinschreibung verfasst sind, schnell schlägt seine Stimmung aber in Schock über den Inhalt der Briefe um. Seine Geliebte Sofie ist verlobt und soll bald einen reichen Mann heiraten. Zu allem Überfluss reden die Hunde auch noch darüber, dass sie sich über Poprischtschin lustig macht und ihn bedauernswert findet. Die Hunde kommentieren sein unordentliches Aussehen und sein strohiges Haar, das stimmt Poprischtschin traurig. Wie unfair ist es, dass die Eliten immer alles bekommen, während er nur ein einfacher Kopierer ist und so hart arbeiten muss?
Die nächsten Tage liest Poprischtschin Zeitungsartikel, von denen ihm besonders die über den vermissten spanischen König Sorgen bereiten. Wie kann es sein, dass es einen Thron gibt, auf dem niemand sitzt? Wo ist der vermisste König? Poprischtschin entscheidet, dass er wohl nie nur ein einfacher Kopierer war, sondern vielleicht selbst der vermisste König Spaniens ist. Seine Arbeit muss er nun nicht mehr aufsuchen, da er sich seinen königlichen Pflichten zu widmen hat. Auch Sophie wird ihn jetzt unbedingt heiraten wollen, da er ja nun auch ein reicher Mann von Stand ist, also sucht er ihr Haus auf, dringt in ihr Zimmer ein und schwärmt ihr vor, wie großartig ihre Hochzeit werden wird. Von seiner Arbeit wird Poprischtschin gefeuert, doch das tangiert ihn nicht, zweifellos wird ihn bald sowieso ein Komitee abholen kommen, um ihn nach Spanien zu begleiten.
Ein Komitee kommt wirklich, und Poprischtschin wird in eine Nervenanstalt eingewiesen. Er selbst ist seinen Wahnvorstellungen jetzt komplett unterlegen. Wo es ihm vorher noch möglich war sich selbst wieder zu fassen und zur Realität zurückzufinden, lebt er jetzt ganz in seiner Gedankenwelt. Die Anstalt nimmt er als Spanien wahr und die Angestellten sind seine Unterlegenen. An die Gepflogenheiten Spaniens muss er sich noch gewöhnen, verprügelt zu werden gehört dort wohl zu den Eigenheiten der Kultur.
Poprischtschins Wahn darzustellen, indem man die Schauspielerinnen selbst immer wieder die vierte Wand brechen und in das Geschehen eingreifen lässt ist meisterhaft umgesetzt und die Brechung der Meta-Ebene überzeugt. Poprischtschins Besessenheit wird der Zuschauer*in durch seine Charakterisierung schon bewusst, aber erst durch seine Darstellung auf der Bühne wird diese sichtbar gemacht. Denn wie nur die Zuschauer*in, Poprischtschin selbst aber nicht weiß, ist dieser ja wortwörtlich besessen, besessen von den zwei Puppenspielerinnen, die jede seiner Bewegungen steuern. Er ist nicht er selbst und er ist nicht nur einer, fremde Gestalten haben seinen Körper übernommen und sein Handeln unter Kontrolle. Das Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn gelingt hier auf spektakuläre Art und Weise, die noch lange nach dem Anschauen zum Nachdenken anregt.
Foto: Pierre Yves Jortay