Die aktuelle Kritik

F. Wiesel, Frankfurt: "Luxemburg"

Von Esther Boldt

Einmal Tabula Rasa machen. Für die Vorstellungskraft. Einmal alles auf Anfang setzen, einen Ort erfinden, irgendwo hinter der Zukunft. So spricht und verspricht es die Performerin Ana Berkenhoff am Anfang von „Luxemburg“ - und er klingt verlockend, der Neuanfang in diesen Endspiel-haften Zeiten, in denen wir händeringend nach neuen Erzählungen suchen, nach neuen Geschichten.

Während Berkenhoffs Prolog flirrt Silberschnee über die Monitore unterschiedlicher Größe, die auf der Bühne verteilt stehen, auf Tischen ebenso wie am Boden. Die Bühne: ein wenige Quadratmeter großes Rechteck, an zwei Seiten von Publikumstribünen umgeben. Hier finden Bildproduktion und Performance zugleich statt: Im Hintergrund steht das Modell von Rosas Behausung, eine Schlafnische, ein Bücherregal, ein Arbeitstisch, ein weites Fenster, von dem aus sie ins ewige Eis blickt. Das natürlich nicht so ewig ist wie gedacht, und doch wird es, in Rosas Zukunft, nach der großen Gletscherschmelze zurückgekehrt sein. Nebenan befindet sich ein Modell, das Rosas Haus von außen zeigt. Es steht auf hohen Stelzen auf einem Plattenspieler und kreist um sich selbst. Noch weiter links sitzt Jost von Harleßem am Technikpult. Rechts: weitere Arbeitstische, ein Overheadprojektor. Dazwischen: Monitore, über die Rosas Welt flirrt.

Denn Rosa lebt in dieser Zeit jenseits der Zukunft, die das Künstler:innenduo F. Wiesel - Hanke Wilsmann und Jost von Harleßem - gemeinsam mit der Performerin und Musiktheater-Regisseurin Ana Berkenhoff in den Frankfurter Landungsbrücken entwirft. Die Figur der Rosa, dieser androgynen, kahlköpfigen Puppe, die morgens ganz ohne Wecker und Kalender aus dem Bett kommt, ihrem eigenen Rhythmus folgend, ist von drei Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts inspiriert, die zukunftsweisende Entwicklungen vorantrieben: die Revolutionärin Rosa Luxemburg, die Mathematikerin Ada Lovelace sowie die Krankenschwester und Statistikerin Florence Nightingale. Rosa selbst ist eine Überlebende, vielleicht sogar die einzige Überlebende einer nur grob skizzierten Katastrophe, von Hochwasser und Feuerstürmen, die nun allein in einer Messstation am Gletscher lebt. Hier folgt sie ihrer Routine, hier überprüft sie täglich die eingehenden Messdaten, wartet die Maschinen und taucht in die Untiefen der Archive ab.

Rosa bei ihrer Forschungstätigkeit (c) Jörg Baumann

Berkenhoff, von Harleßem und Wilsmann tupfen ihre Science-Fiction-Erzählung mit hoher Leichtigkeit und ebensolcher Dichte in den Raum. Puppenspiel, die vielteilige, detailverliebte Bühnenmaschinerie und Filmtricktechnik lassen einen Lebensraum entstehen, der selbst ein Zwischenraum ist - situiert zwischen einer kalten, kargen Landschaft, in der nicht einmal mehr Tiere leben, und der Welt der Maschinen, auch dem virtuellen Raum des Computers. In dieser Zeit jenseits der Zukunft sind die Maschinen Rosas einzige Gegenüber und Dialog-Partner:innen.

Der Bühnenraum als Maschinenwelt in "Luxemburg" (c) Jörg Baumann

Wie in ihren vorangegangenen Arbeiten verschaffen Wilsmann und von Harleßem sowohl Räumen als auch Objekten ein Eigenleben, verquicken Menschen und Maschinen eng miteinander. Während sich jedoch beispielsweise in „Superquadra“ (2018) die Räume stets in Verwandlung befanden, scheint in der Forschungsstation von „Luxemburg“ die Zeit still zu stehen. Obgleich die Forschungsstation selbst ein Relikt aus der Vergangenheit zu sein scheint, fährt Rosa fort mit ihrer Arbeit. Und sie reist durch die Zeit: mithilfe von Forschungsinstrumenten beispielsweise, mit denen sie die Schichten des Eises aus dem Bohrkern untersucht, und mithilfe ihres Computers.

In diesem Sinne ist es eine zutiefst un-heimliche Welt, die F. Wiesel entwerfen. Eine Welt, in der die Maschinen leben und die Natur ausgeräumt scheint, eine Welt, in der Rosa hinabtaucht in die Archive, um nach Vorbildern zu suchen, während die Zeit um sie herum stillsteht. Denn auch wenn die Sehnsucht nach einem Tabula Rasa groß ist, nach etwas, das nicht vorgeprägt ist und einen Neubeginn ermöglicht, so macht „Luxemburg“ doch auch deutlich, dass wir uns stets innerhalb eines Gewebes aus Natur, Kultur und Technik bewegen, eines Gewebes, das seine historischen Schichten in sich trägt wie die Bohrkerne des Eises, an dessen Jahresringen sich Frühlingsstürme ebenso ablesen lassen wie die Erfindung der Eisenbahn und der Abwurf der Atombombe über Hiroshima. In der Einöde des ewigen, getauten und neu gefrorenen Eises klingt es fast wie ein Trost: Dass ein Neubeginn nicht möglich ist, dass er immer schon aufruht auf Gewesenem, durchdrungen ist von Geschichten. Was bleibt, ist, mit F. Wiesel diese Geschichte/n in ihren poetischen, assoziativen Multimedia-Collagen anders zu erzählen, gegen den Strich und gegen den Strom, um die Potenziale jener Leerstellen und Brüche auszumachen, die sich in dieser Lesart ergeben. Und „Luxemburg“ gibt einen beglückenden Vorgeschmack darauf.

---

"Luxemburg" von F. Wiesel

von und mit Ana Berkenhoff, Hanke Wilsmann, Jost von Harleßem
Mitarbeit Kostüm: Hannah von Eiff
Mitarbeit Musik: Philip Albus
Produktionsleitung: Heidrun Schlegel
Fotos: Jörg Baumann 

www.flinkwiesel.de

0 Kommentare

Neuer Kommentar