Young Writers

In den Lücken lauschen: Letters from My Father und die Potentiale von Leerstellen, um „(Zu)Hören“ nach Claudia Brunner zu lernen.

Von Kai Maiweg

Die Zeit frisst Löcher ins Gedächtnis. Und wie zuverlässig sind die Erinnerungen eines Kindes mit Fantasie? Letters from My Father spielt mit den Lücken und lässt das Ungesagte umso lauter klingen.

Das Programmheft bezeichnet Agnès Limbos als „Meisterin des Objekttheaters“ und dieser Titel wird mit dieser Inszenierung mehr als bestätigt. Zwischen den Briefen, welche ihr Vater 1960 an sie und ihre Geschwister schickte, konstruiert die Performerin lebendige Erinnerungsminiaturen, vom Haus und dem Garten ihres Onkels hin zu einem nahegelegenen Schloss. Es entstehen auch imaginäre Orte, basierend auf den Informationen zu den Konflikten im jüngst von Belgien unabhängig gewordenen Kongo, welche sie durch den Filter der Briefe und belgischer Propaganda erreichen. Eine jüngere Agnès, das Kindheits-Ich der Performerin, beobachtet als Puppe ebenfalls die Rekonstruktionen, eine doppelte Anwesenheit, welche die Retrospektive der kritischeren erwachsenen Künstlerin verdeutlicht.

Die Erinnerungsbilder sind träumerisch ungenau. Häuser haben keine Wände, für die Weide muss eine Buchsbaumlampe herhalten, ein Krokodil verirrt sich in die Kirche. Was auch eine künstlerische Entscheidung wegen des Spiels mit Miniaturen ist, öffnet die Ebene des Unwissbaren: Die Erinnerungen der jüngeren Agnès sind gefüllt mit Ausschmückungen, sie haben Lücken. Das ist nach über 60 Jahren zu erwarten. Was jedoch unverändert geblieben ist, sind die Briefe. Als schriftliche Dokumente einer vergangenen Zeit haben sie die Jahre überdauert, sind in der Lage, die wöchentliche Korrespondenz der Eltern an ihre Kinder akkurat abzubilden. Oder?

Mit dem Rückblick auf die Briefe gibt sich die Perspektive des Vaters zu erkennen. Ob in seinem Umgang mit Mitarbeitenden seines Haushalts und wie über sie und andere Schwarze Menschen geschrieben wird, oder dass er Jugendliche zum Arbeiten in ein „Ferienlager“ schickt – der Verfasser dieser Briefe ist stark kolonialistisch geprägt. Es fällt erneut auf, wenn erzählt wird, der Vater lerne eine lokale Sprache. Die Beispiele, die er nennt, sind alle Kommandos, Anweisungen im Imperativ, welche er als Herr seines Hauses seinen Angestellten gibt. Selbst wenn keine direkte Propaganda von dem Vater an seine Kinder geschickt wird, kommt doch welche an. Er ist in einem Bildungsprogramm für das Radio involviert – dasselbe Medium, welches die Bitte der neuen belgischen Königin, für das „Zivilisieren“ der Einwohner*innen des Kongos zu beten, abspielt. Der Ton ist derselbe. Als westliche Perspektive ist die epistemische Gewalt des Vaters so natürlich in seine Briefe eingeschrieben, dass eine Einordnung des Ausmaßes für ein unvorbereitetes Publikum schwierig erscheinen kann.

Letztendlich wird fast nichts direkt gesagt. Um an Informationen über die Befreiungskämpfe zu kommen, müssen buchstäblich Kassettenbänder aus der Erde ausgegraben werden. Alle Vorstellungen, welche sich die junge Agnès von den Kämpfen macht, sind imaginierte Bilder basierend auf den limitierten Informationen, die ihr zur Verfügung stehen.

Immer wieder fallen die Leerstellen, die Asymmetrien auf: Es werden keine Antworten auf die Briefe vorgelesen. Der Vater monologisiert patriarchal. Alles, was im Subtext mitschwingt, aber nicht gesagt wird, wirkt in diesen Momenten der Stille umso lauter.

Auch aktivistisch hat Stille und Schweigen Potential. In ihrem Text Vom Sprechen und Schweigen und (Zu)Hören in der Kolonialität des Wissens schreibt Claudia Brunner mit Bezug auf Boaventura de Sousa Santos vom „Schweigen der Privilegierten als solidarische Praxis“1: Radikal transformative, dekoloniale Positionen könnten nur von Aktivist*innen aus dem globalen Süden umgesetzt werden, weshalb die Privilegierten aus dem globalen Norden aufmerksam zuhören müssten, um die Voraussetzung für das Gehörtwerden zu bilden.2 „Dieses (Zu)Hören ist es, das die Aufmerksamkeit auf die grundlegende Asymmetrie richtet, die in liberalen dialogischen Modellen hartnäckig ignoriert wird.“3 I.e.: Die ungleichen Machtverhältnisse, welche durch jahrhundertelange Unterdrückung und Misshandlung durch den Kolonialismus prädominant waren, sind noch immer vorhanden. Dialoge zu verlangen, setzt Unterdrückte und Unterdrücker auf dieselbe Ebene, und impliziert, dass trotz anhaltender Gewalt ein ebenbürtiges Gespräch geführt werden kann. Das Schweigen, um (Zu)Hören zu praktizieren, zeigt, dass sich dieser Asymmetrie bewusst gemacht worden ist.

In Letters from My Father gibt es keine Präsenz auf der Bühne, welche für die Marginalisierten im Kongo sprechen kann. Die Lücken bleiben folglich ungefüllt, wie historisch akkurat für die junge Agnès. Die unzählbaren Stimmen, welche während des Kolonialismus und auch jetzt noch während den noch immer gewaltvollen Folgen des Kolonialismus im privilegierten globalen Norden ungehört bleiben, können nicht alle in der persönlichen Familiengeschichte von Agnès Limbos Gehör finden. Doch was Letters from My Father kann, ist, das Publikum vorzubereiten, um besser, nämlich nach Brunner aktiv und solidarisch4 zuzuhören.

 

 

1 Brunner, C.: „Vom Sprechen und Schweigen und (Zu)Hören in der Kolonialität des Wissens“, In: Sprache und Macht, Wien 2017, S. 57

2 vgl. ebd. S. 57

3 ebd. S. 57

4 vgl. ebd. S. 62

Foto: Hervé Dapremont

 

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