LOCO: Wie stellt man Realität und Wahnsinn auf der Bühne dar?
Nachdem ich bei der FIDENA LOCO auf der Bühne sah, interessierte es mich, das Stück mit seiner Vorlage zu vergleichen. Was ist an der Handlung anders, was ist gleich, was ist vielleicht ganz neu und wie verändert eine Bühnenfassung die Wahrnehmung der Handlung?
Eine der offensichtlichen Veränderungen ist Poprischtschins Beruf: Im Buch ist er Titularrat im russischen Kaiserreich, dieser Beruf hat aber außerhalb dieser Zeit und Region kaum ein relevantes Äquivalent, also ist der Poprischtschin im Stück ein Kopierer. Poprischtschins neuer Beruf modernisiert das Stück, ohne dem Publikum ein festes Jahr zu geben – ob die Handlung nun in den 1970er Jahren oder heute spielt, ist auch kaum von Wichtigkeit. Durch die Wahl des Kopierers als neuen Beruf bleibt die Monotonie Poprischtschins Alltags erhalten: Im Buch war seine wichtigste Aufgabe das Anspitzen der Schreibfedern des Direktors, im Stück arbeitet er Tag ein Tag aus nur mit Papier. Wer würde da nicht wahnsinnig werden?
Der für mich stärkste Unterschied zwischen Buch und Bühnenfasung ist, dass Gogols Poprischtschin unsympathischer ist: Er ist gehässig und schnell aufgebracht, ständig beleidigt er die Menschen in seinem Umfeld, wird dabei sogar antisemitisch.[1] Bereits auf der ersten Seite verbringt er einen Absatz damit, über seine Kolleg*innen zu lamentieren.[2] Während Poprischtschin im Stück zwar ebenso nicht mit seinen Kolleg*innen klarkommt, scheint dies eher ein Problem sozialer Inkompetenz zu sein: Er geht gerne ins Theater, doch wenn er versucht, mit seinen Mitarbeiter*innen darüber zu reden, zeigen diese kein Interesse. Er ist der Meinung, das liege daran, dass er einfach besseren Geschmack hätte und kultivierter sei; dass diese ihn vielleicht nicht mögen, kommt ihm nicht ihn den Sinn.
Dass es Poprischtschin an sozialen Kontakten fehlt, ist in beiden Versionen klar: Mit seinen Kolleg*innen versteht er sich nicht, verachtet diese sogar und auch daheim hat er im Buch nur Mawra, die für ihn kocht und den Haushalt macht, von ihm jedoch anderweitig nicht besonders geschätzt wird, im Stück ist er anscheinend sogar ohne sie. Freundschaften oder Familie werden nicht erwähnt mit Ausnahme des verzweifelten Hilferufs an seine Mutter am Ende der Kurzgeschichte. Verschlimmert wird seine Einsamkeit durch seine Lethargie, denn er verbringt vermehrt seine Feierabende im Bett, verschläft und kommt zu spät zur Arbeit oder geht gar nicht erst hin.[3] Diese Einsamkeit fördere laut Weertje Willms Poprischtschins Realitätsverlust: „[Poprischtschins] soziale Isolation kann man als psychotisch interpretieren, denn indem er den Austausch mit anderen Menschen vermeidet, vermeidet er auch den Abgleich mit der Realität und der Realitätswahrnehmung durch die anderen Menschen“[4] – ist er allein, kann ihm niemand widersprechen, wenn er beginnt, sich Verschwörungstheorien auszudenken und zuletzt sogar behauptet, er sei der König von Spanien.
Obwohl ich die Kurzgeschichte erst las, nachdem ich das Stück sah, hatte ich eine ungefähre Vorstellung der Handlung und war gespannt, wie Gogols Spielen mit Realität und Halluzination auf der Bühne funktionieren könnte. Gogol nutzte Tagebucheinträge, um seine Geschichte zu erzählen, die Leser*innen erfahren alles aus Poprischtschins Perspektive. Wie arbeitet man einen unzuverlässigen Erzähler und die dadurch entstehende Ungewissheit der Handlung in ein Stück ein? Cie. Belova-Iacobelli löst das Problem ziemlich einfach: Poprischtschin ist weiterhin der Erzähler, dem Publikum wird die Handlung nicht gezeigt, sondern von ihm geschildert und nur manchmal wird sie auch visuell untermalt. Zudem ist Poprischtschin der einzige „echte“ Charakter auf der Bühne, die einzigen Male, wo er nicht selbst spricht, sind, wenn seine Halluzinationen dargestellt werden, es gibt niemanden auf der Bühne, der die Realität repräsentieren könnte. Somit befindet sich das Publikum in der gleichen Position wie die Leser*innen der Kurzgeschichte und kann sich nur auf Poprischtschins Erzählung und dem eigenen Wissen, dass Hunde einander keine Briefe schreiben und der Mond nicht auf die Erde stürzen wird, verlassen.
Doch trotzdem hatte ich das Gefühl, eine andere Beziehung zum Poprischtschin im Stück zu haben. Auf der Bühne werden Poprischtschins Geschichten und Verschwörungstheorien als physische Visionen dargestellt, so sieht man den Fisch, der angeblich sprechen könne und ein Mond aus Dokumenten und Druckerpapier schwebt und rollt über die Bühne, nachdem Poprischtschin behauptet, der Mond würde sich bald auf die Erde setzen. Dadurch werden diese Ereignisse natürlich nicht wahr, jedoch zeigen sie eine Besonderheit der Bühnenfassung: Im Buch liest man von Poprischtschins Wahnvorstellungen, im Stück materialisieren sie sich, das Publikum sieht sie auch und für einen Moment wirken sie echt. Wir sehen, was er sieht und seine Visionen suchen nicht nur ihn heim, sondern auch das Publikum. Poprischtschins Vorstellungen auf der Bühne halfen mir, mich in ihn hineinzuversetzen; während ich in Gogols Kurzgeschichte zwar alles aus seiner Perspektive las, blieb es mir immer im Hinterkopf, dass ich Poprischtschins Erzählung nicht vollkommen trauen kann, wodurch eine gewisse Distanz erhalten blieb. Wenn die Spielerinnen Marta Pereira und Tita Iacobelli ihm wirr und unverständlich zuflüstern, höre auch ich seine auditiven Halluzinationen und wenn ein Fisch auf der Bühne schwebt und spricht, sehe ich seine visuellen Halluzinationen, wenn ich erfahre, was er erfährt, verstehe ich ihn besser und empfinde ein stärkeres Mitgefühl. Die visuellen Halluzinationen sind untermalt mit schwachem Licht und Musik, sie scheinen eine Traumsequenz zu sein, doch für Poprischtschin sind sie genauso glaubwürdig wie die Realität. Diese Traumsequenzen sind nahezu angsteinflößend durch die düstere Untermalung, der Fisch ist riesig und magisch auf eine einschüchternde Art. Der Mond hüpft auf der Bühne und könnte Poprischtschin ohne Probleme umstoßen.
Zudem kommt sein Auftreten: Sei es die schwache Stimme oder der klägliche Gesichtsausdruck der Puppe - der Poprischtschin im Stück wirkt nahezu erbärmlich. Die von Loïc Nebrada gebaute Puppe hat ein freudloses Gesicht, manchmal wirkt sie erschöpft, manchmal ist ihr Blick leer, nicht wie man es von einer Puppe erwarten würde, sondern wie jemand, der schon viel zu lange ein monotones Leben führt. Sie tut mir leid.
Dieses Mitleid verspürte ich beim Lesen der Kurzgeschichte erst, als Poprischtschin in eine Psychiatrie kommt und von seinen Erfahrungen dort berichtet. In diesem Teil der Handlung lässt das Stück vermehrt Geschehnisse aus dem Buch aus. Zwar kommt Poprischtschin ebenfalls in eine psychiatrische Anstalt, was dann aber dort mit ihm geschieht, ist anders. In der Kurzgeschichte rasiert man ihm trotz lautstarker Proteste den Kopf, quält ihn mit kaltem Wasser, das über ihn gegossen wird und schlägt ihn mit einem Stock. Einer der Angestellten droht, ihm „bis an [s]ein Lebensende zu schaden.“[5] Obwohl Poprischtschin weiterhin in seinem Wahn steckt (so hält er die Angestellten der Psychiatrie für spanische Deputierte und später einen von ihnen für einen Großinquisitor), so scheinen die Folter und Schläge ihm wirklich zuzustoßen – natürlich helfen sie ihm nicht, in die Realität zurückzukehren. Als er dann im letzten Tagebucheintrag verzweifelt und gebrochen um die Hilfe seiner Mutter fleht und behauptet, es sei „kein Platz für ihn auf der Welt“[6] und einsieht, dass er krank ist, fühlte ich mich genauso bedrückt wie in dem Moment, als ich in das traurige Gesicht der Puppe schaute.
Die Entscheidung, die Schilderung der Qualen in der Bühnenfassung wegzulassen, mag daher kommen, dass der Poprischtschin im Stück nun nicht in einem „Irrenhaus“ frühen 19. Jahrhunderts landete, sondern stattdessen in eine modernere Psychiatrie kam, in der diese Methoden nicht mehr angewandt wurden.
Das Stück hat ein stärkeres Horror-Gefühl bereits, bevor es beginnt: Das Publikum kommt in einen dunklen Raum, in dem eine gespenstische Melodie spielt, man hört Stimmen, die kichern und flüstern, die Spielerinnen betreten die Bühne, ihre Gesichter waren nicht zu sehen und das Stück beginnt, als sie die Puppe wecken. Diese unangenehme Atmosphäre zieht sich durch das ganze Stück durch. Obwohl es mir persönlich nicht so ging, hörte ich von anderen, dass die Puppe ihnen Angst machte, das blasse Erscheinen und der leere Blick, vielleicht auch die raue, unebene Haut, löste nicht in allen Zuschauer*innen die gleiche Empathie aus wie in mir. Die Darstellung von Poprischtschins Halluzinationen war meines Erachtens das Gruseligste am Stück – die flüsternden Stimmen, die schwammige Realitätswahrnehmung, das ständige Unwissen, was wahr ist und was nicht – es fühlte sich an, als würde man mit Poprischtschin gemeinsam wahnsinnig werden.
Cie. Belova-Iacobelli bringt einen Klassiker der russischen Literatur auf die Bühne und haucht ihm neues Leben ein, schafft eine (positiv) unangenehme Atmosphäre und stellt meisterhaft den Absturz in den Wahnsinn dar. Ihren Poprischtschin empfand ich als zugänglicher und sympathischer, vielleicht, weil ich seinen Wahnsinn besser nachvollziehen konnte. Es ist bereits mehr als zwei Monate her, dass ich LOCO gesehen habe und beim Überlegen, worüber ich meinen dritten Blogeintrag schreiben könnte, kam es mir als erstes in den Sinn – Poprischtschins Gesicht, seine Stimme, die beeindruckende Puppenführung von Marta Pereira und Tita Iacobelli, die düstere Stimmung werden mir vermutlich auch noch in der Zukunft im Kopf bleiben.
[1] Vgl. Nikolai Gogol, Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, Hamburg 1. Auflage 2023, S. 8.
[2] Vgl. ebd.
[3] Vgl. Weertje Willms, „Wissen um Wahn und Schizophrenie bei Nikolaj Gogol und Georg Büchner. Vergleichende Textanalyse von Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) und Lenz“, in: Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800, hg. v. Thomas Klinkert u. Monika Neuhofer, Berlin New York 2008, S. 89 – 109, hier: S. 96.
[4] Ebd.
[5] Nikolai Gogol, Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 36.
[6] Nikolai Gogol, Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 38.
Foto: Pierre Yves Jortay