Young Writers

FIDENA zum Mitmachen: Immersion und Publikumsbeteiligung

Von Lena Melzer

Nicht immer nehmen Zuschauer*innen eine ausschließlich passive Rolle im Theater an. Manchmal sind “Mitmach-Elemente” geplant, manchmal sind die Stücke einfach unglaublich mitreißend.

Theater heißt nicht immer nur Zuschauen. Gerne wird die sogenannte vierte Wand durchbrochen. Oft wird dies in Kinderstücken genutzt, allerdings nicht ausschließlich, auch Stücke für andere Altersgruppen, machen davon Gebrauch. Nicht nur ein Lachen, Seufzen, Staunen oder das Klatschen im Applaus am Ende ist gewünscht, manchmal darf das Publikum sogar noch aktiver werden, was alle Sinne beanspruchen kann. Ich habe einige Stücke, so viel es mein Terminkalender und die Wegzeiten zwischen den Theatern zulassen, der FIDENA 2024 mitgenommen und möchte von Erfahrungen aus dem Publikumsraum berichten.

Kakao mit Zucker

Das erste Stück, das ich sehen und erfahren durfte, war Kakao mit Zucker vom KMZ-Kollektiv — tatsächlich war es die Generalprobe. Das Stück dreht sich um die Herstellung von Schokolade und damit verbundene Unterdrückung und Kolonialisierung in den Ursprungsländern (mehr dazu in den Blogeinträgen von Dio und Kai ). Das Publikum nimmt auf Sitzsäcken Platz und darf zunächst zuhören. Dann passiert ein „Platzwechsel“ und wir begeben uns in einen aufblasbaren, großen Hund. Dort dürfen wir Kakaobohnen anfassen und sogar probieren. Alle Sinne werden eingespannt als hinterher auf einer Plane Kakaopulver ausgebreitet wird, das die Zuschauer*innen anfassen dürfen und auch riechen werden. Kakao mit Zucker ist ein lehrreiches Mitmachstück, das definitiv in Erinnerung bleibt und nie langweilig wird, weil das Publikum konstant einbezogen wird.

Santa Pulcinella

… ist das traditionelle italienische Kaspertheater. So ist auch die Vorstellung gehalten. Es gibt keine Sprache, nur Laute und Geräusche durch Musikinstrumente oder Stimme. Zu Beginn interagiert Pulcinella mit dem Publikum und fordert es durch Blicke und eigenes Klatschen zum Mitklatschen auf. Das klappt auch sehr gut, das Publikum versteht die Aufforderung sehr schnell und klatscht mit. Der Rest des Stückes ist „klassischer", das heißt, es ist nur Zuschauen gefragt. Ab und zu wird die 4. Wand durch Blicke von Pulcinella gebrochen, aber ansonsten ist das Publikum bei diesem Stück kein Teil der Inszenierung.

Five Lines - Erinnerungen aus der Zukunft

Bei diesem Stück von Frau Trapp gab es für mich persönlich einen besonderen Moment der Immersion. Recht zu Beginn wird ein Erdbeben beschrieben, mit passendem Sound der Erschütterung. Dieser dumpfe, tiefe Klang war laut und durchdringend genug, dass die Vibrationen im Boden und den Sitzen des Zuschauer*innenraums zu spüren waren. Dies gab das Gefühl dabei zu sein. Gegen Ende gab es eine Szene, in der das Publikum selbst zu Akteur*innen gemacht wurde: Es wird von Community gesprochen und die Kamera, welche live auf eine Leinwand projiziert, schwenkt über das Publikum und macht die Zuschauer*innen somit zu einem Teil der Inszenierung.

Mehr zum Stück in diesem Blogeintrag.

The Storyville Mosquito

Direkt zu Beginn wird das Publikum angesprochen — als Kid Koala auf die Bühne kommt, begrüßt er uns und erzählt erstmal ein wenig über sein neues Album, welches im Foyer zum Verkauf steht und wie der Vinyl-Sleeve als Brettspiel funktionieren kann. Dann gibt es noch eine kurze Aufforderung an einem bestimmten Punkt im Stück den Hauptcharakter, Mosquito, mit unseren Rufen anzufeuern. Das Stück beginnt und verläuft soweit wie ein normales Theaterstück — bis auf den Aufbau natürlich. Als dann die Stelle kommt, an dem der Mosquito Motivation durch Hilfe des Publikums benötigt, gibt es ein kleines Zeichen von Kid Koala und die Zuschauer*innen, jung und alt, beginnen im Chor seinen Namen zu rufen. Nach einer Weile haben die Rufe dann auch ihre Wirkung gezeigt, der Mosquito traut sich sein Stück vorzuführen.

Auch zum Stück: Blogeintrag von Julia W, Blogeintrag von Lena und Blogeintrag von Annika.

What to do in a puppet emergency

Mark Down gestaltete einen Abend der Fidena mit What to do in a puppet emergency, einem komödiantischen Vortrag über das Verhalten in einem Puppen-Notfall. Mitgebracht hatte er eine simple Puppe aus weißem Stoff, mit sehr beweglichen Gliedmaßen, die ohne Hilfe schlapp in sich zusammenfällt. In zehn Schritten wird erklärt, was zu tun ist, sollte man eine hilflose Puppe finden, verglichen mit einer ohnmächtigen Person — in welchem Fall man vermutlich einen Krankenwagen rufen würde. Zu den Schritten zählt zum Beispiel die Puppe zu greifen, sie atmen zu lassen und eine Bewegung hinzuzufügen, aber auch jemanden zu Hilfe holen. Und dann noch jemanden. Das wurde natürlich auch in der Performance demonstriert. Mark Down hat Personen aus dem Publikum dazu geholt, um zu helfen die Puppe zu bespielen.

Die gestiefelte Katze

Die gestiefelte Katze von Theater Zitadelle Puppet Company erzählt das bekannte Märchen des gestiefelten Katers, nur dass es sich hier um eine Katze handelt. Ganz zu Beginn stellt sich der Protagonist dem Publikum als sagenhafter Zauberer vor und erklärt dann, wie er überhaupt zum Zauberer geworden ist, womit das Märchen dann als Rückblick beginnt. Wer das Märchen kennt, weißt, dass der König mit seiner Kutsche durch seine Länder fährt und die auf den Feldern und Wäldern arbeitenden Menschen fragt, wem die Landschaften gehören — um Bestätigung zu bekommen, da es seine eigenen sind. Nun hatte die Katze den Plan, dass der Müllerssohn die Identität des Graf von Carabas annimmt und dass der Besitz des bösen Zauberers seiner sein soll. Dazu läuft die Katze durch die Länder des Zauberers und erklärt den Arbeitern dort, dass sie auf Nachfrage dem König antworten sollen, die Länder gehören dem Graf von Carabas — die Rolle der Arbeiter nimmt das Publikum ein. So darf das Publikum also mitspielen und mit dem König sein Frage-Antwort-Spiel spielen, während er mit seiner Kutsche einen Ausflug macht.

Mehr zum Stück im Blogeintrag von Vivian.

Letters from my Father

Bei Letters from my Father von Compagnie Gare Centrale schien sich das Publikum nicht ganz sicher zu sein, ob eine Beteiligung gewünscht war. Das Stück beginnt damit, dass Agnès Limbos die Bühne betritt und das Publikum begrüßt. Darauf kommen noch recht bestimmte Antworten zurück. Während des Stückes werden Antworten aus dem Publikum jedoch immer zögernder. In mehreren Szenen taucht ein Objekt auf der Bühne auf, zieht eine Runde und verschwindet wieder. Agnès stellt daraufhin die Frage, ob nicht gerade das gesehene Objekt da gewesen war, oder ob sie sich das nur eingebildet hatte. Als dies zum ersten Mal passierte, kamen aus dem Publikum ein paar gut verständliche Stimmen, die die Frage von Agnès bestätigten. Je öfter diese Frage im Laufe des Stücks gestellt wird, desto leiser und zögernder wird das Publikum.

Mehr zum Inhalt gibt es im Blogeintrag von Kai zu lesen.

Grand Hotel Grimm

Die Theater Zitadelle Puppet Company hat uns dieses Jahr noch ein zweites Stück gezeigt: Grand Hotel Grimm. Dort wird die vierte Wand direkt zu Beginn gebrochen: Der Liftboy — oder ist es doch Daniel Wagner, der Puppenspieler? — erklärt uns direkt eingangs die Handlung des Stückes und einen Witz, der direkt zu Beginn des Stückes fallen soll, damit wir, das Publikum, diesen auch verstehen und darauf hin lachen würden. In diesem Stück gibt es einige vierte-Wand-Brüche. Die Katze scheint zu wissen, dass sie eine Puppe ist, die anderen Puppen aber nicht. Die Puppenspieler*innen Regina und Daniel Wagner haben gleichzeitig ihre eigenen Rollen als Personal im Hotel. In einer Szene äußert die Katze sogar, dass sie ja niemals einfach so auf dem Tisch abgelegt werden würde, und beschwert sich hinterher, als dies doch passiert.

Mitzi‘s Mensch

Gleich bei Betreten des Theatersaals kommt das Gefühl einer Vorlesung auf. Die Stühle stehen auf einer Tribüne, auf der Bühne ein Redepult und eine Leinwand. Passend zu diesem Aufbau spricht auch Ariel Doron das Publikum an, wie ein Dozent Studierende in einer Vorlesung. Dann kommt die Katzenpuppe Mitzi dazu. Und Mitzi spricht auch mit dem Publikum - sie kommandiert Ariel sogar herum. An einem Punkt wird eine freiwillige Person aus dem Publikum auf die Bühne gebeten, um Mitzi zu assistieren, während der Mensch, Ariel, in der Kiste — dem Redepult — sitzt. Aus Schrödingers Katze wird Mitzi‘s Mensch und am Ende des Stücks landet das Publikum in der Kiste. Doch das war nicht allen sofort klar. Ariel und Mitzi verlassen die Bühne und man hört eine Tür laut knallen. Dann Stille. Für eine ganze Weile passiert gar nichts und so langsam wird den ersten Zuschauer*innen bewusst, dass das Publikum nun zur Katze in der Kiste geworden ist. Diese Pause dauert recht lange an und das Publikum ist sich nicht sicher, was zu tun ist. Es wird zögerlich geklatscht, nach Mitzi und dem Menschen gerufen, sogar miaut und verlegen gelacht.

Mehr zum Stück im Blogeintrag von Julia W.

Summer ‘69

Summer ‘69 war Teil des Abendprogramms der diesjährigen FIDENA. Das recht kurze Stück sorgt für unterhaltsame Minuten in der Erzählung eines — auf allen Wegen — heißen Sommerpicknicks. An sich gibt es keinen aktiven Teil für das Publikum, außer zuzuschauen, allerdings wird auch hier wieder die vierte Wand gebrochen. Jean, die Puppe, zeigt uns anhand eines Miniaturaufbaus was er und seine Geliebte im Sommer ’69 so getrieben haben. Dabei ist die Atmosphäre von Anfang an heimelig, als würden wir gemeinsam im Wohnzimmer sitzen. Bereits während des Einlasses sitzt Jean auf der Bühne, nimmt ab und zu einen Schluck aus seinem Glas Bier, schaut durch den Saal oder richtet seine Kleidung.

Auch in diesen Einträgen geht es um Summer ‘69:

Blogeintrag von Quanicha 

Blogeintrag von Nazlinur

Blogeintrag von Sara 

Blogeintrag von Julia H. 

Blogeintrag von Jessica 

Ding

Ding ist ein Objekttheaterstück für Kinder. An sich ist es nicht interaktiv gestaltet, allerdings werden die Kinder doch ein wenig mit einbezogen. Das Stück ist quasi aus der Sicht eines Kindes geschrieben, Karoline Hoffmann interagiert mit der goldenen Folie, wie es vermutlich auch ein Kleinkind tun würde, sie erforscht Geräusch, Beweglichkeit und Textur. Die Kinder in der ersten Reihe kommen der Folie besonders nahe — und können sich am Ende sogar ein kleines Stück mitnehmen. Als ein Fön ins Spiel kommt, wird dieser auch kurz aufs Publikum gerichtet, wodurch die Kinder auch den sanften Wind erfahren dürfen. Sehr interessant sind auch die Einrufe der Kinder, die natürlich noch nicht gelernt haben, dass man im Theater normalerweise still zuschaut — doch diese Einblicke in den Kinderkopf können auch für die Erwachsenen im Publikum interessant sein. Mehr dazu im Blogeintrag von Vivian.

Auch zum Stück:

Blogeintrag von Lena

Blogeintrag von Sara 

Wood Paths

Wie ich in diesem Blogeintrag bereits erwähnt habe, war Wood Paths nicht für jede*n gemacht. An sich gab es hier keine vom Stück offensichtlich vorgesehene Interaktion durch das Publikum, allerdings hat sich ein Mann kurz selbst zum Akteur gemacht, auf seine eigene Weise. In der ersten Hälfte des Stückes haben bereits einige Personen die Halle still verlassen — ihr gutes Recht wenn ihnen das Stück nicht zusagt. Ein Herr jedoch verkündete lautstark, dass ihm das Stück nicht gefällt: bevor er ging, stoppte er kurz vor der Bühne, sagte „Macht mal Feierabend“ zu den beiden Performern und murmelte dann noch „was ein Blödsinn“, als er durch die Tür nach draußen ging.

Fazit

Ich war lange nicht so intensiv im Theater wie zur FIDENA 2024. Dabei ist mir vermehrt aufgefallen, dass Menschen im Publikum gerne mal anfangen zu lachen, wenn nicht ganz klar ist, was passiert, Unsicherheiten entstehen oder sie verlegen sind. Auch ist mir aufgefallen, dass erstaunlich viele ihr Handy nicht ausschalten können, auch wenn das vorher explizit erbeten wurde. Erstaunlicherweise sind es meist die älteren Personen im Publikum, die auch während der Vorstellung noch Nachrichten schreiben oder sogar Bilder von der Vorstellung machen. Theater ist nicht nur ein Zuschauen, Theater kann auch ein Miteinander sein. Das Gefühl gemeinsam mit anderen Menschen im Saal zu sitzen, gleiche oder ähnliche Emotionen spüren – all das kann verbinden. Auch der Austausch mit anderen nach dem Stück kann sehr wertvoll sein, ganz egal ob die andere Person das Stück auch gesehen hat, oder nicht. Natürlich ist es auch vollkommen verständlich am Ende die gesammelten Eindrücke für sich selbst zu behalten, aber mir persönlich hat es viel geholfen, mich nach den einzelnen Inszenierungen auszutauschen.

 

Foto: Simon Baucks

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