Die aktuelle Kritik

Meinhardt & Krauss: "Alice lost in Cyberland"

Von Petra Bail

Das Stuttgarter Ensemble Meinhardt & Krauss hat auf der Basis von Lewis Carrolls Kinderbuchklassiker „Alice im Wunderland“ das Robotermärchen „Alice lost in Cyberland“ entwickelt, das am Fitz! Stuttgart Premiere hatte.

Alice spielt gelangweilt auf ihrem I-Pad. Als ein niedliches weißes Kaninchen vorbeihoppelt, spurtet sie hinterher, bis es in seinem Bau verschwindet. Neugierig springt ihm das Mädchen nach und wird hineingezogen in einen Strudel absurder Abenteuer im Wunderland.

 

Ist das Original aus dem Jahr 1865 schon ein herausragendes Beispiel der Nonsensliteratur, so darf das spacige Kinderstücke von Meinhardt & Krauss als Ode an die Fantasie bezeichnet werden. Da steckt alles drin, was technikaffine Kinder, die über Tablets wischen wie Profis und die Smartphones der Eltern aus dem Effeff bedienen eine Stunde bei bester Laune hält und den Erwachsenen auch Spaß macht. Regisseurin Iris Meinhardt hat die klassische Geschichte mit den abgedrehten Figuren als zeitgemäße Blaupause für die heutigen Erfahrungswelten auf die Bühne gebracht. Schließlich müssen wir uns in einer digitalen Welt voller staubsaugender, rasenmähender Roboter-Helfer, die in Banken und Bibliotheken sogar sagen, wo’s langgeht, zurechtfinden und dabei aufpassen, dass wir uns nicht verlieren.

 

So geht es auch der kleinen Alice, die das Fantasiereich sehr sonderbar findet. Alle sind ein bisschen verrückt und stellen herkömmliche Regeln auf den Kopf. Letztlich bekommt sie vom Kaninchen den ultimativen Rat, der das Surreale dieser Hybridgeschichte deutlich macht: „Sei, was zu sein du scheinst.“

 

Mittels Video, Robotik, klassischem Figurenspiel und Elektronikmusik führt diese groteske Reise auf verschlungenen Pfaden durchs märchenhafte Cyberland. Dabei lernt Alice die Raupe, die Grinse-Mieze, den durchgeknallten Hutmacher, die Herzkönigin mit blinkendem Plastikherz und die Computermaus kennen. Während die Geschichte aus dem Off erzählt wird, wächst sie und schrumpft, wird von Luis Hergón und Coline Petit als Figur bewegt oder taucht in der Gestalt von Merle Meinhardt digital auf. Einzelne Bühnenszenen setzten sich auf Monitoren in verschiedenen Größen fort oder werden ganz als kurzes Video gezeigt. Traumschöne Bilder entstehen vom Wald oder von Alices Tränen, die sich im großen Display sammeln, zu einem Meer werden, in dem das Mädchen zu ertrinken droht. Performanceartig werden die Bildschirme wie Collagen geschichtet – die bewegte Bilder sprechen ihre eigene, poetische Sprache.

 

Dabei kommt es gar nicht so sehr auf den Inhalt an, den dürften Sechsjährige so verfremdet ohnehin kaum verstehen. Natürlich kann man die irren Figuren zuordnen, wenn man die Geschichte kennt. Doch viel wichtiger ist die dichte Atmosphäre, die durch diese Vielschichtigkeit entsteht, wenn das hochtechnisierte Ohren-Konstrukt des Cyber-Bunny wackelt, sich der motorgesteuerte Hut des verrückten Hutmachers auf dem Kopf bewegt und die Roboter-Raupe auf der dunklen Bühne verführerisch blinkt und leuchtet, wie die Schlange im Paradies. Bei der Teeparty rollt sich die Tischdecke wie von Zauberhand über die Tafel auf dem großen Monitor, die Teekanne steht daneben auf dem Tablet. Mal sitzt Alice als Figur am Tisch, mal beobachtet ihre digitale Variante die Szenerie aus der Distanz ihres Bildschirms. Der schnelle Wechsel der Darstellungsformen fordert auf spannende Weise die gesamte Aufmerksamkeit. Zum Schluss verraten wir auch noch das Passwort fürs Cyberland. Wie könnte es anders heißen als Alice?

 

Premiere: 24. Oktober 2020

Foto: Michael Kraus

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