Young Writers

Organismo – Zugänglichkeit in Unverständnis

Von Ann-Kathrine Buchmakowsky

In dieser Analyse wird eine Begegnung mit Marañas Organismo auf den Prüfstand der Zugänglichkeit von Theaterstücken gestellt. Und kommt diese Zugänglichkeit von uns aus oder aus dem Stück?

Organismo war eines der Stücke, das ich auf keinen Fall verpassen wollte auf der diesjährigen FIDENA. Bezaubert von den Snippets aus dem Trailer, weiter angefixt durch das Programmheft stand meine Entscheidung mit dem ersten Hauch FIDENA in der Luft fest: Das muss ich sehen – und mein (nicht ganz so theateraffiner) Partner ebenfalls! Was wird es ihm für eine Freude bereiten, diese Materialschlacht und die Akrobatik zu sehen. Wie sehr wird er wohl ins Staunen kommen und von den Fähigkeiten der Künstler*innen zu schwärmen wissen?! Gesagt, getan. Ein wunderbares Erlebnis und nach Puppet Emergency und Fritz Kola im Pumpenhaus ging es abends verschwitzt auf die Heimreise. Vorsichtig, nachdem wir im Schlafzimmer angekommen sind und uns beginnen bettfertig zu machen, frage ich: „Na? Was hast du gesehen?“ Es war ein komplexes Stück, vielfältig, ungewöhnlich; auch für (eine) Theatergänger*in wie mich. Ich bin neugierig, was ihm am stärksten aufgefallen ist. Der (kleinbürgerliche) Schock über die Barbusigkeit der Darsteller*innen? Ihre körperliche Leistungsfähigkeit oder war da doch das faszinierte Staunen über das imposante Bühnenbild?
Es folgt ein kurzes Innehalten, dann: „Ich habe eine Mutter gesehen, die ihr Kind aufgezogen hat und dann hat sie es verloren.“ Ich schaue auf. Begeisterung kocht in mir hoch. No way… eine ganze Interpretation? Mein Partner kann sonst nicht viel mit Kunst anfangen, erst recht nicht, wenn es allzu abstrakt wird. Ich falle aus allen Wolken und muss trotzdem erstmal ne Nacht darüber schlafen.

Noch Wochen später erzähle ich von der spontanen Interpretationsarbeit und meiner Rührung darüber bei Freunden*innen, Kommilitonen*innen und nicht zuletzt beim Abschlusstreffen des Seminars zur FIDENA.

Und ich bin immer noch nicht fertig, darüber nachzudenken. Was hat Organismo gemacht? Wie haben sich mein Partner und das Stück gefunden? Ineinander gefunden und (vielleicht) ganz im Sinne des Stückes eine Symbiose von Geschichte gewebt (– oder passender gesagt gehäkelt)?

Einen Interpretationsversuch möchte ich durch die folgende These einleiten:

Organismo hat ein hohes Aktualisierungspotenzial und funktioniert je nach räumlichem, zeitlichem und gesellschaftlichem Kontext anders, aber es ist immer gleichermaßen zugänglich.

Doch was beschreibt Zugänglichkeit?

Zugänglichkeit zeigt sich vornehmlich qua Definition durch eine Nutzbarkeit. Diese Nutzbarkeit kann räumlich eingeschränkt sein, bspw. dadurch, dass ein Zugang zu etwas gewährt wird, das eine bestimmte Form von Körperlichkeit erfordert oder einschließt. Sowohl im Räum-lichen Sinne als auch im Sinne eine abled-Körpers, der bestimmte Möglichkeiten des Zugangs zu Räumen wie auch der Be/Nutzbarkeit des eigenen Körpers einschließt. In einem bildlichen oder immateriellen Sinne gedacht beschreibt Zugänglichkeit die Nutzbarkeit, die sich auf das Verstehen-zum-Benutzen bezieht (wobei der Nutzen des Benutzens zweitrangig ist) sowie auf eine Art und Weise der Begegnung: die theoretische Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit und Kontaktfreude. [1] Zugänglichkeit zum Stück orientiert sich in dieser Ausführung an der letzten Interpretation: Zugänglichkeit, die Kontaktfreude ist.

Aber warum ist Organismo also jetzt genau so zugänglich? Klassischerweise findet die „Kontaktaufnahme“ im Theater über „die Auffassung [statt], dass Aufführungen dazu dienen, bestimmte vorgegebene Bedeutungen zu vermitteln“ ([2] S. 54). In Organismo fallen viele der im Theater üblichen Zeichen weg: linguistische Zeichen fehlen komplett und Maske, Kostüm, Frisur, Raumkonzept, Dekoration und Requisite lassen sowohl proxemische Zeichen als auch üblicherweise schauspieler*innenbezogene Zeichen (mimisch, gestisch) (vgl. [2] S. 85) im Gesamtwerk Bühnenraum/Ganzkörper-Puppe/Bühne-als-Körper verschwimmen. Zudem gibt es in Organismo keine Zeichen, die dem*der Zuschauer*in bereits aus dem Alltag vertraut sind. Sie sind dadurch allerdings nicht bedeutungslos, sondern fordern das Publikum dadurch umso mehr in der Wahrnehmung der Zeichen auf, eine Bedeutungskonstruktion zu vollziehen. Die Komplexität der Aufführung, die sich aus der Beziehungslosigkeit der theatralen Zeichen der Aufführung zu den sich aus dem Alltag ableitbaren Zeichen ergibt, steigert die Wahrnehmung von Beziehungen auf der Bühne a priori. Beziehungen sind dabei aus Komplexität erschaffene Bedeutungen der Dinge untereinander.

 

Und die Zeichen in Organismo sind nicht auf ihre Bedeutung reduzierbar.
Zudem steht zur Debatte, inwiefern sich Organismo überhaupt aus Zeichen zusammensetzt. Lacan beschreibt das Symbolische (hier als das Zeichen, das umgehend eine Bedeutungskonstruktion erfährt) als durch die Sprache zu ordnen. Das entscheidende Kriterium des Zeichens in einer Zeichenwelt ist seine Wiederholbarkeit bzw. die Wiederholung. [3] Durch eine dominante Wahrnehmungsweise des Stückes als in Beziehungen gedacht lassen sich einzelne „Elemente“ nicht wiederholbar machen. Denken wir diese Zeichen oder Elemente also als durch eine Singularität hervorgebrachte Wahrnehmungen, die sich sogleich zu Bedeutungen konstruieren, ist der Sinn der Aufführung unfassbar, da „nur Sinnverschiebungen zwischen Signifikanten denkbar sind, nicht jedoch die ‚Sinnpräsenz‘ irgendeines fixierbaren, endgültigen Signifikats“ ([4] S. 125). Folgen wir Derridas Überlegungen zu Zeichen und Schrift so kann auf einer Metaebene keine Schrift der Zeichen entstehen: die Grammatologie ist unmöglich und Organismo bleibt unverständlich. [5]

Das widerspricht jedoch scheinbar unserem Ausgangspunkt einer Zugänglichkeit des Stückes. Wie kann Unverständliches zugänglich sein?

Erika Fischer-Lichte schreibt über die Entstehung von Bedeutung: „Den Leib und die Dinge in ihrer spezifischen Präsenz wahrzunehmen, heißt allerdings nichts, sie als bedeutungslos wahrzunehmen. Es heißt vielmehr, alle diese Phänomene als etwas wahrzunehmen. Es handelt sich dabei nicht um einen unspezifischen Reiz, um ein bloßes Sinnesdatum, sondern um die Wahrnehmung von etwas als etwas.“ ([2] S. 55) Ist also die Wahrnehmung an sich, diese besondere räumlich/zeitlich/situative Eigenschaft der Theateraufführung der Grund, dass die Wahrnehmungen zu Bedeutungen werden? Wenn dem so ist, wäre sowohl das in der Ausgangsthese beschriebene Aktualisierungspotential nicht nur durch äußere, historische oder gesellschaftliche Aspekte (auch die Erfahrungen des Publikums sind ausgeschlossen) begünstigt, sondern per se im Stück eingeschrieben. Ist also die Zugänglichkeit dadurch erzeugt, dass das Stück der (menschlichen) Teilhabe ausgesetzt ist? Ist die Antwort so simpel wie die Frage: „Na? Was hast du gesehen?“

Oder würde es genauso weiterleben, wenn sich ihm andere Organismen nähern oder es nicht sehen, spüren, riechen, hören? Sollte es also an dieser Stelle ausgereicht haben, „einfach ins Theater zu gehen“? Ohne den ständigen Anspruch an uns Selbst und Andere „zu verstehen“, sondern einfach nur zugänglich zu sein? Zugänglich für das Leben, das Nicht-Menschliche, aber auch unseren Erfahrungen, Assoziationen und dem Allen als Organismo


Quellen:

[1] „zugänglich“, in: DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, https://www.dwds.de/wb/zug%C3%A4nglich, abgerufen am 14.09.2024.

[2] Fischer-Lichte, Erika, Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen A. Francke Verlag Tübingen und Basel 2010, (UTB 3103).

[3] Lacan, Jaques, „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. Wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, in: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Olten Walter Verlag 1973. S. 61-70.

[4] Zima, Peter V., Komparatistik, Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen Francke Verlag Tübingen 1992, (UTB 1705).

[5] Derrida, Jaques, Grammatologie, Frankfurt am Main Suhrkamp Verlag 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft Sonderausgabe zum 30jährigen Bestehen der Reihe Band 417).

Kotte, Andreas, Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln Böhlau Verlag Köln Weimar Wien 2. Auflage 2012, (UTB 2665).

 

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