Essays

"Das ganze Spiel liegt im Handgelenk"

von Tom Mustroph

Einblicke in die chilenische Puppen- und Figurentheaterszene: die chilenische Puppenspielentdeckung Tita Iacobelli.

 

Tom Mustroph hat sich für uns ein Bild der Figurentheater-Szene Chiles gemacht. Dafür besuchte er das internationale Festival Santiago a Mil, wo besonders die Inszenierung Chaika der Künstlerinnen Tito Iacobelli und Natacha Belova Eindruck hinterlassen hat. Diese wird übrigens im Juli und August auf zwei belgischen Festivals, sowie im September auf dem Figurentheaterfestival in Charlesville-Mézières und in Toulouse gezeigt.  

Hier gibt es zur Lektüre einen Teaser zu sehen: https://vimeo.com/279795457

 

Etwa 20 Compagnien gibt es in Chile, 15 davon in der Hauptstadt Santiago. Wichtiger Motor ist die Gruppe Viajeinmóvil. Sie existiert seit 15 Jahren und betreibt seit 12 Jahren das internationale Festival La rebelión de las muñecas. Viajeinmóvil erhielt im letzten Jahr eine Förderung für den Aufbau einer Puppentheater-Akademie. Das ist ein epochaler Schritt, denn eine Puppenspielausbildung gab es in Chile lange Zeit nicht. Tita Iacobelli, Mitglied von Viajeinmóvil, erhielt Anfang Januar den Sparten-übergreifenden Preis der chilenischen Kritiker*innen für die beste Theaterproduktion des Landes im Jahre 2018 – weiteres Kennzeichen für die Anerkennung des Puppentheaters. Und auch Santiago a Mil, das größte Festival des Landes, vergleichbar mit dem Berliner Theatertreffen, hatte ganz selbstverständlich mehrere Puppen- und Figurentheaterinszenierungen im Programm. Eine Sparte im Aufschwung.

Es war ein besonderer Moment beim Festival Santiago a Mil, als die Vorstellung von Chaika zu Ende ging. Niemand aus dem Publikum wollte gehen. Alle waren gebannt von Chaika, einer Puppentheateradaption von Anton Tschechows Die Möwe. Reduziert auf nur eine Spielerin gab es die komplette Möwe – und noch mehr: Eine Erzählung über das Altern, über die Einsamkeit des Alterns und den Kampf dagegen. Chaika war zudem ein intensives Stück über zwei Frauen, die derart miteinander verschmolzen, dass man nicht mehr auseinanderhalten konnte, wer hier wen führte: Die Spielerin die Puppe, weil sie ihr Arm und Hand, Bein, Fuß und Stimme lieh oder doch die Puppe die Spielerin, weil Chaika, die Hauptfigur, eine so eigene Kraft und Ausstrahlung gewann, dass sie vollkommen lebendig wirkte.

„Entstanden ist das Projekt aus einer Zusammenarbeit zwischen der Puppenbauerin Natacha Belova und mir. Wir haben uns vor fünf Jahren bei einem Workshop des Festivals La rebelión de las muñecas kennengelernt. Es gab 20 Teilnehmer*innen und es ging darum, für jedes Projekt eine Puppe zu entwerfen. Natacha, die aus Russland stammt, hatte danach die Idee, eine Puppe zu Tschechows Die Möwe zu bauen. Anfangs war nur klar, dass es eine dieser hybriden, Menschen-großen Puppen werden würde, die Natachas Spezialität sind. Wir wussten aber noch nicht, wie man damit das Stück spielen kann. Erst nach und nach stellte sich heraus, dass Chaika eine alte Schauspielerin ist, die alle Frauenrollen schon gespielt hat und jetzt, im Alter, davon träumt, noch einmal die junge Nina spielen zu dürfen“, erzählt Tita Iacobelli. Chaika (russisch für „Möwe“) erhielt das künstlich gealterte Gesicht Iacobellis. Auf der Bühne bestach die besondere Beziehung von Spielerin und Puppe. Sie schienen miteinander verwachsen, und waren doch zwei. „Eines meiner Beine ist auch das Bein von Chaika, ein Arm von mir steckt in ihrem Kostüm. Und mit der anderen Hand dirigiere ich ihren Kopf. Fast das gesamte Spiel liegt im Handgelenk: Die Richtung, in die Chaika schaut, bestimmt die Emotion. Alles Technik“, sagt Iacobelli. Technik, die Gefühle produzierte. Das Schicksal der alternden Schauspielerin Chaika trieb jungen wie alten Zuschauer*innen die Tränen in die Augen. Menschengroße Puppen sind eine relativ junge Form im chilenischen Puppentheater. Viajeinmóvil setzte sie etwa bei ihrer Produktion Otello (2012) ein, auf Anregung durch einen Workshop beim Festival in Charleville-Mézières übrigens. Überhaupt ist die aktuelle Puppen- und Figurentheaterszene in Chile durch eine große Neugier auf neue Formen, Themen und eben auch internationale Anregungen geprägt. Das ist ein noch immer anhaltender Einfluss des politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs nach dem Ende der Pinochet-Diktatur. Anreiz ist auch, dass Institutionen wie Santiago a Mil solche Kooperationen besonders gern ins Programm aufnehmen.

Inspiration für Chaika war Iacobelli auch das Schicksal vieler alter Schauspielerinnen in Chile. „Es gibt kein gutes Rentensystem für Schauspielerinnen hier. Im Fernsehen werden gelegentlich frühere Diven gezeigt, wie sie jetzt ärmlich ihr Leben fristen. Man sieht die Aufnahmen, in denen sie einst Göttinnen glichen, und sieht sie jetzt in absoluter Armut.“ Iacobelli spricht hier von Fernseh- und Filmdiven, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere zumindest gut verdient haben. Für Bühnenschauspieler*innen, erst recht für Puppenspieler*innen, sieht es noch düsterer aus. Problematisch ist auch, dass die neoliberale Regierung kürzlich die Subventionen für wichtige Kulturinstitutionen um ein Drittel kürzte. Das erzeugt einerseits Ängste, andererseits mobilisiert es Gegenkräfte. Vor allem Student*innen protestieren massenhaft gegen Kürzungen im Bildungs- und Kulturbereich. Studentisches Publikum macht auch einen Großteil des Publikums von Viajeinmóvil aus. Stammhaus der Gruppe ist der Theatersaal der Akademie der Künste– ein in die Jahre gekommener, ramponiert wirkender Bühnenraum, der perfekt zu Chaika passte.

Vor dem Gebäude erstreckt sich ein Park, den vor allem junge Leute frequentieren. Viele von ihnen drängten ins Theater. Eintritt zahlt man hier nicht, nur Austritt, wenn es denn gefallen hat. Allerdings, so scherzte Jaime Lorca, Gründer und Kopf von Viajeinmóvil, in einer Clownsmaske vor Vorstellungsbeginn, werde man nach dem dritten Mal, bei dem man ohne zu zahlen das Theater verlassen, nicht mehr in den Saal gelassen. Das kontrolliert natürlich niemand. Lorcas Finanz-Vorspiel ist ein Spiel mit der prekären Lage eines großen Teils des Publikums. Und es ist ein Spiel mit der prekären Lage des Theaters. Mit den Eintrittsgeldern allein käme es ohnehin nicht weit. Die städtischen Zuwendungen reichen geradeso für den Betrieb. Anderen Häusern, auch denen des Schauspiels, geht es allerdings nicht grundsätzlich anders. Deshalb kann Iacobelli lachend sagen: „Hierzulande gilt Puppentheater nicht als die arme Schwester des großen Schauspiels. Eigentlich haben alle wenig Geld.“

Viajeinmóvil ist neben der eigenen Aufführungspraxis auch das Gravitationszentrum der chilenischen Puppentheaterszene. Die Gruppe holte sich Unterstützung des nationalen Kunstmuseums und kann dauerhaft den Theatersaal der Akademie der Künste bespielen. Seit zwölf Jahren organisiert sie zudem das Festival La rebelión de las muñecas – das wichtigste Spartenfestival im Lande. Chilenische Gruppen werden eingeladen, aber auch internationale Gäste, für Vorstellungen und Workshops. Häufiger Gast ist der britische Marionettenspieler und Dozent Stephen Mottram. Auch Iacobellis Partnerin Belova, die aktuell in Belgien arbeitet, dort unter anderem mit der Brüsseler Compagnie Point Zéro, kam über das Festival. Bei der letzten Ausgabe war aus Deutschland Uta Geberts Anubis im Programm. Zuerst beim Festival von Viajeinmóvil war ebenfalls Magdalena, eine Arbeit der Compagnie Traversière aus Frankreich, zu sehen, bevor sie von Santiago a Mil eingeladen wurde. Überhaupt fiel bei diesem chilenischen „Theatertreffen“ auf, dass hier ganz selbstverständlich Puppen- und Objekttheater im Programm waren. Das Spartendenken scheint in Chile überwunden, vielleicht auch wegen der „Gleichheit in Armut“. Allerdings war Antrittsbedingung bei Santiago a Mil, dass chilenische Puppentheatermacher*innen mit internationalen Künstler*innen kooperieren müssen. Man kann dies als Fortführung eines Lernprozesses, der mit der kulturellen Öffnung nach dem Ende der Pinochet-Diktatur begann, lobpreisen - es aber auch als Zeichen der Durchglobalisierung des Theaters kritisieren.

Rundum positiv ist, dass in Kürze aus der Rebelión de las muñecas eine eigenständige Akademie herauswachsen soll. „Wir haben dafür eine Förderung erhalten. Das ist ein wichtiger Schritt. Denn eine Ausbildung zum Puppenspieler gibt es bislang überhaupt nicht in Chile“, berichtet Iacobelli. Über konkrete Lehrinhalte der Akademie konnte sie noch keine Auskunft geben. Geplant ist zum jetzigen Stand vor allem eine Verstetigung der Workshop-Aktivitäten des Festivals. Puppenspiellehrer*innen aus diesen Programmen sollen auch für die Akademie gewonnen werden. Vor allem ist an internationale Akteur*innen gedacht. Denn Puppenspieler*innen sind in Chile weitgehend Autodidakten. Iacobelli selbst, eine gelernte Theaterschauspielerin, erlernte erst im Laufe der Arbeit bei Viajeinmóvil das Führen von Puppen. Der klassische Weg ist, von Kolleg*innen zu lernen, die sich ihr Handwerk wiederum bei anderen abgeschaut haben. So fließen auch Erfahrungen und Techniken internationaler Puppenspieler*innen in die Vermittlung ein. Bekannt sind im letzten Jahrhundert Einflüsse des Piccolo Teatro aus Turin und aus der sowjetischen Puppentheaterschule. Nicht untypisch sind auch Quereinsteiger*innen aus ganz anderen Berufsfeldern. Eine in der Vergangenheit prägende Figur wie Adolfo Schwarzenberg, ein Abkömmling deutscher Einwander*innen, legte erst nach dem verheerenden Erdbeben von 1960 in Valparaiso seine Arbeit als Immobilienmakler nieder und wandte sich dann dem Puppenspiel zu. „Es gab kein Land, keine Grundstücke mehr, alles war überschwemmt“, begründete er später seinen Berufswechsel (s. Hoja del Titeritero, Newsletter der Comisión para América Latina der UNIMA, Nr. 15, Dezember 2008, www.hojacal.info/hojacal15.pdf). Eingeführt wurde Puppentheater in Chile im späten 18. Jahrhundert von spanischen und italienischen Einwander*innen, teilweise auch von durchreisenden Spieler*innen aus dem Nachbarland Argentinien. Verbindungen mit Maskenspiel-Traditionen der indigenen Bevölkerung (vor allem der Mapuche) sind aus dieser Zeit nicht bekannt. Puppenspiel war eine Kunstform der Kolonisator*innen und ihrer sich weitgehend an europäischen Traditionen orientierenden Nachkommen. Es fand vor allem als Handpuppenspiel auf öffentlichen Plätzen statt und war eingebettet in die auch aus Europa geläufigen Jahrmarktsaktivitäten von Akrobat*innen und Jongleur*innen, Tänzer*innen und Magier*innen. Für die Jahre der Befreiungskriege gegen die spanische Krone wird dem Handpuppentheater eine politische Färbung und auch eine größere Resonanz zugeschrieben. In den späteren Jahrzehnten mussten Puppenspieler*innen oft in Kneipen und Bordelle ausweichen. Aber auch Open Air-Vorstellungen vor 500 Zuschauern sind aus dem 19. Jahrhundert überliefert. (Vgl. Camila Mery Valdés und Denisse Petit-Breuilh-Chaves: Teatro de Muñecos en Chile: Nacimiento y desarrollo de las nuevas propuestas de expresión plástica en estos últimos cinco años (1997-2002), S. 41f, http://repositorio.uchile.cl/handle/2250/101588). Ab den 1940er Jahren erfolgte ein neuerlicher Aufschwung, initiiert durch Puppenspielkurse an der Universität in Santiago. Höhepunkt war die Integration von Puppenspiel in die Ausbildung von Unterstufenlehrer*innen. Puppentheater und Schule gingen hier eine enge institutionelle Bindung ein: Puppenspiel wurde unter anderem zur Vermittlung von Lehrinhalten und zur Erhöhung der Aufmerksamkeit der Schüler eingesetzt. (Mery Valdés/ Petit-Breuilh-Chaves, S. 44). Aber auch außerhalb der Schulen erlebte Puppenspiel einen Boom. Zahlreiche Compagnien wurden gegründet, teils mit eigenen Spielstätten, und auch nicht nur in der traditionell das Kulturleben beherrschenden Hauptstadt Santiago. Eine Truppe etwa zog mit einem 150 Zuschauer fassenden mobilen Theater durch Chiles Badeorte. Einen tiefen Einschnitt stellte die Pinochet-Diktatur dar. Zahlreiche Künstler*innen verloren ihre Arbeitsmöglichkeiten. Die akademische Ausbildung fiel infolge der Umstrukturierung des Bildungssektors ebenfalls weg. Einige Compagnien, unter anderem die Schwarzenbergs, spielten aber weiter (Mery Valdés/ Petit-Breuilh-Chaves, S. 47ff). Mit dem Ende der Diktatur erblühte das Puppen-, Figuren- und Objekttheater. Neue Compagnien gründeten sich, die nicht mehr nur Handpuppen bauten, sondern auch Marionetten, hybride Puppen und plastische Objekte. Festivals entstanden in Santiago, Valparaiso, Viña del Mar und Valdivia. Einzelne Universitäten bieten wieder Kurse und Workshops an. Eine Puppentheater-Akademie, wie sie Viajeinmóvil anstrebt, wäre eine Verstetigung der Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte. 

 

© Photos by Michael Gálvez: Chaika by Compañía Belova-Iacobelli 2018