Die aktuelle Kritik

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen: "Amphitryon"

Von Sarah Heppekausen

Nis Søgaard zelebriert am Musiktheater im Revier das Verwirrspiel mit Kleists „Amphitryon“ (nach Molière). Er inszeniert die Tragikomödie mit dem MiR Puppentheater als dessen erste Produktion für Erwachsene mit einem Literaturklassiker als Grundlage. Und das Spiel mit dem Schein treibt Søgaard ziemlich weit im Akustischen wie im Visuellen, mit Puppen und Masken, experimentellem Sound und exaltierten Kostümen. So viel Fläche für Fake!

Mensch oder Pflanze? Tier oder Windrauschen? Diener Sosias kann sich da nicht mehr sicher sein. Sinne trügen. Und die schwarzgelackten Gestalten um ihn herum tun alles, um sie heillos zu verwirren. Sie schnalzen, sie hauchen, sie wehen wie Wind und stehen stumm als Baum. Wer ist was? Und was ist echt?

Worum es geht: Diener Sosias ist es, der den Sieg gegen Athen und die Rückkehr des Amphitryon ankündigen soll. Aber andere waren schneller. Der Götterbote Merkur ist in Gestalt des Sosias längst in Theben und bandelt mit Sosias’ Frau Charis an. Und Göttervater Jupiter hat sich in Amphitryon verwandelt, um eine Liebesnacht mit dessen Gattin Alkmene verbringen zu können. Die Götter prahlen, die Menschen straucheln, die Identitätskrise ist groß. „Ich, welches Ich?“ Das fragt sich Sosias im Angesicht seines göttlichen Doppelgängers.

"Amphitryon" © Matthias Jung

Im MiR sind die Götter Puppen – marmorweiß und klein wie Kinder. Und die Menschen tragen Masken – kaum Mimik, keine Falten, Starre im Gesicht. Sie haben sich ihr eigenes Bildnis aufgesetzt, ihr Antlitz inszeniert. Und sie bewegen sich wie Marionetten, wie Spielfiguren in der Videogame-Arena. Gloria Iberl-Thiemes Charis läuft im engen, neongrünen Lackkleid ausschließlich auf der geraden Linie, als hätte jemand die Pfeiltasten auf dem Computer bedient. Merten Schroedter wirft sich als ihr Mann Sosias den dunkelgrünen Umhang um die Schultern, seine Geste für emotionale Gereiztheit. Beide agieren übertrieben groß, übertrieben laut.

Künstlichkeit ist das zentrale Motiv dieser Inszenierung – auf allen Ebenen. Auf Jelena Nagornis Bühne flackern die Blitze und architektonische Andeutungen von Torbögen stehen herum. Kostümbildner Amit Epstein hat dem Ensemble nicht bloß steife Lackkleidung verpasst, sondern den Nicht-Maske-Tragenden auch strenge, neonfarbene Perücken aufgesetzt. Persönlichkeit hat da keine Chance. Ironische Züge bekommt diese ganze Maskerade durch die Musik. Zu den elektronisch-experimentellen Sounds der Band „We Will Kaleid“ tanzen sie im Stechschritt, auch das übertrieben bizarr. Commedia dell’arte trifft Art-Pop. Eine Choreografie clownesker Unnahbarkeit, unangenehm komisch.

"Amphitryon" © Matthias Jung

Bei zu viel Schein stellt sich einfach nicht mehr die existenzielle Frage nach Identität. Es ist, als wäre es dafür längst zu spät, ein hoffnungsloser Fall, der trotzdem immer weiter durchgespielt, ja durchexerziert wird. Maske gegen Puppe. Aber es gibt sie auch, diese wenigen zerbrechlichen Momente, die Menschlichkeit zeigen. Und es sind die Puppen, die Emotionales durchfunkeln lassen, genauer gesagt, die Puppen und ihre Spieler*innen. Wenn sich der beleidigte Jupiter-Amphitryon eine Zigarette anzündet und schmollt. Wenn Alkmene (Johanna Kunze) diese göttliche Gattenpuppe auf den Arm nimmt und plötzlich auch Rollenbilder infrage gestellt werden. Und wenn die Götter als unechte Menschen entlarvt werden: Dann erscheinen unter ihren Masken gesichtslose Köpfe. Ihre Körper saugen sich ein und verschwinden im Nichts. Entlarvte Kopfgeburten des Menschen. Der Rest bleibt Show.

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Premiere: 8. April 2022

Weitere Termine: 14., 15. und 28. Mai 2022

Inszenierung: Nis Søgaard

Musik: We Will Kaleid

Puppen: Lili Laube

Bühne: Jelena Nagorni

Kostüme: Amit Epstein

Licht: Mario Turco

Ton: Jan Wittkowski

Dramaturgie: Anna-Maria Polke

Fotos: Matthias Jung

 

Besetzung:

Amphitryon: Daniel Jeroma

Alkmene: Johanna Kunze

Sosias: Merten Schroedter

Charis: Gloria Iberl-Thieme

Jupiter: Karoline Hoffmann

Merkur: Sebastian Schiller

Herkules: Colin Danderski

Band: We Will Kaleid (Lukas Streich, Jasmina de Boer)

 

1 Kommentar
Peter Waschinsky
27.04.2022

Amphytrion

Das würde ich gerne sehen.
Auch wenn nach Fotos und Trailer der Puppenspielanteil mal wieder üblich klein ist, wie leider oft, nicht nur bei Regisseur Søgaard (aber natürlich bewundert der Laie genau das: "Die können auch RICHTIG Theaterspielen!").  Søgaard legte ja zumindest mit "Das Fest" vor 3 Jahren den Akzent wirklich auf Puppenspiel.

"GELSENKIRCHENER BAROCK"
nannte man mal ironisch gewisse scheinprotzige Möbel für den kleinen Geldbeutel, kurz: Fake. 
Fragt man beim MiR freundlich nach dessen Puppentheater, hüllen sich Intendant und Puppensparten-Chefin in pikiertes Schweigen. Dass das "MiR-Puppentheater" neben einer E.-Busch-Puppen-Absoventin nur aus zwei Puppenspielstudenten besteht, dazu 2 Schauspielern ohne jeden Puppenspielbezug in der Vita, lässt vor allem fragen: Wenns Schauspieler auch ohne entspr. Ausbildung bringen, andererseits Puppenspiel-Absolventen  nicht in G. engagiert werden (wollen?), scheint das Ganze doch wieder mal ein recht potemkinsches Dorf. 

Auch ich verdanke einen Teil meiner Karriere der Mode von Puppenspiel in Schauspiel und Oper - früher allerdings suchten Häuser wie Berliner Staatsoper, Deutsches Theater, Staatstheater Cottbus möglichst Karätiges auch im Puppenspiel, heute allzuoft eher möglichst Preiswertes. Und früher tat man nicht gleich so, als hätte man ein neues Puppenspiel-Ensemble installiert, wenn wie hier nur bei Bedarf Spieler dazugekauft werden. 

Die Ernst-Busch-Puppenabteilung - unlängst auffällig, weil man 2021 Marionette von ahnungslosen Kreativen unterrichten liess (und das inzwischen ganz normal fand) - schmückt sich gern mit dem MiR. Und sieht man auf den Fotos mal wieder die obligatorischen 3 offenen Puppenspieler an 1 Puppe, der Dauerlösung modernen Puppenspiels neben der Klappmaulpuppe, wird klar, warum dieser Hochschule das Marionettendesaster nicht mal peinlich ist. 

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