Young Writers

Überlegungen zu ORGANISMO von MARAÑA als Übung von Community

Von Kai Maiweg

Was kann uns ORGANISMO über uns selbst und unsere Art zu leben verraten? Und was hat Häkeln mit Communityleben zu tun? Eine Erkundung.

ORGANISMO fasziniert mit bunten, psychedelischen Farben, dem Kunsthandwerk des Bühnenbilds und atemberaubender Akrobatik und Tanz. Die Bühne wird lebendig, sie ist der titelgebende ‘Organismus’. Ein Bezug auf Deleuze und Guattaris Konzept der Wunschmaschinen: Der Organismus atmet. Er isst, er scheißt, er fickt.[1] Er gebiert. Er tanzt und singt. Mit ihren Gesichtern und Köpfen bedeckt produzieren die Tänzer*innen durch ihre Anonymität Mehrdeutigkeit bezogen auf ihre individuellen Identitäten. Es ist nicht unmöglich, sie anhand ihrer Körper auseinanderzuhalten, aber falls sie sich entscheiden würden, mitten in der Aufführung ihre Kostüme zu tauschen, wäre es ihnen möglich, ohne dass viele Leute aus dem Publikum den Tausch bemerken würden.

Das Publikum fühlt sich veranlasst, sich mit dem Organismus, mit der Musik zu bewegen. Die Grenzen verschwimmen - wo beginnt die Bühne, wo endet sie? Wollknäule werden aus Körperöffnungen ausgeschieden und springen von der Bühne bis in die erste Reihe. Es fällt schwer, nach der Aufführung einfach zu gehen. Selbst ohne Musik und ohne Bewegung fühlt sich die Bühne noch immer lebendig und vertraut an. Von dieser Erfahrung, von der man Teil wurde, zu gehen, ist nicht leicht.

Häkeln ist auch ein interessantes Medium für diese Gedanken. Genau wie die Wunschmaschinen aus vielen Einzelteilen mit eigenen Funktionen bestehen, besteht eine Häkelarbeit aus vielen individuellen Maschen, welche andere Maschen festhalten.

Im neoliberalen Kapitalismus sind viele Dinge auf ‘das Individuum’ ausgelegt. Die Freiheit für individuellen Selbstausdruck ist wichtig, ja. Aber es ist gefährlich zu vergessen, dass wir in einem Netzwerk, einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft, oder vielleicht in einer Maschine oder einem Organismus, leben. Gruppenbildung kann in vielen Fällen notwendig sein, relevante Beispiele sind die Sicherheit von Minderheiten heute, oder im weiteren Kontext der gesamten Spezies, die Evolution. Komplette Abgrenzung von der gesamten Gruppe ist jedoch im heutigen Gesellschaftsklima gefährlich. Hass gegen ‘die Anderen’ braut sich an extremistischen Orten zusammen, hyperpersonalisierte Identitäten teilen etablierte Minderheitsgruppen in noch kleinere Gruppen auf.[2] Es gibt eine Fabel, in der es um ein Bündel Stöcke geht, welche nicht zerbrochen werden können, es sei denn sie werden voneinander getrennt und einzeln zerbrochen.

Wenn wir im Publikum von ORGANISMO gemeinsam atmen gibt es das Potential, wenn wir gehen diese Erfahrung mitzunehmen. Es ist gut, Teil von etwas Größerem zu sein, auch wenn wir uns auf uns allein gestellt unwichtig fühlen. Solidarität und Gemeinschaft machen alle stärker. Wenn wir alle eine Masche in einem großen, gehäkelten Organismus sind, und wir uns alle an unseren Nachbarn festhalten… vielleicht können wir dann gemeinsam singen.

 

[1] vgl. Deleuze, G., Guattari, F., Anti-Oedipus – Capitalism and Schizophrenia, 11. Auflage, 2003, University of Minnesota, S.1

[2] vgl. Marshall, Kravitz, (12.11.2020): „On Hyperpersonalized Sexual Identity”. An Injustice!  https://aninjusticemag.com/on-hyperpersonalized-sexual-identity-f3736d15928d/ (zul. aufgerufen: 11.05.2024)

 

Foto: Pablo Hassmann

1 Kommentar
Ann-Kathrine
14.09.2024

Super!

Kai, es ist mir immer eine Freude, dir beim Häkeln zuzuhören. Ich hoffe sehr, dass wir wenigsten in weiten Maschen immer weider aufeinandertreffen und uns verknoten werden.

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