Die aktuelle Kritik

Mensch, Puppe!, Bremen: „Der Aufruf“

Von Falk Schreiber

Das Bremer Figurentheater Mensch, Puppe! ist mit Philip Stemanns „Der Aufruf“ zu Gast im St. Petri-Dom – einem Stück zwischen Ökofabel, Politsatire und religiöser Erbauung, das über 90 Minuten beeindruckend an ästhetischer Kraft gewinnt.

In Katastrophenfilmen gibt es häufig den Moment, an dem die Protagonist*innen genervt sind von kleinen Beeinträchtigungen der Lebensqualität, während das Kinopublikum schon ahnt: Das Hochwasser oder die Extremwetterlagen sind keine Beeinträchtigungen, das sind Vorzeichen vor dem großen Knall. Auch in Philip Stemanns „Der Aufruf“, einem Projekt des Bremer Figurentheaters Mensch, Puppe! im St. Petri-Dom, gibt es diese kurze Irritation zwischen dem, was auf der Bühne passiert und dem, was die Zuschauer*innen wissen. Die Kirchenmaus etwa jammert darüber, dass im Sakralgebäude die Heizung gedrosselt wird, dass die Beleuchtung ausgeschaltet ist und dass es an mehreren Stellen durchs Kirchendach regnet. Und weil es im ordentlichen Katastrophenfilm immer auch den Kassandrarufer gibt, dem niemand glaubt, dass bald wirklich alles den Bach runtergeht, taucht bald eine zweite Maus auf. Die traut sich aus den Kirchenmauern, zum Beispiel ins benachbarte Parlament, wo sie erfährt, dass es wirklich nicht zum Besten steht. Die Flut steigt, die Energieversorgung ist gefährdet, und ein Ende des Regen ist nicht abzusehen. Klimakatastrophe.

Stemanns Stück bewegt sich zunächst ein bisschen unentschlossen zwischen Ökofabel, Politsatire und religiöser Erbauung. Die Mäuse wuseln als große Handpuppen über den Spieltisch der Bach-Orgel im Nordschiff des Doms, was eine aus dem Publikum gut einsehbare Bühnensituation ergibt, die freilich nach einiger Zeit ermüdet, zumal nicht recht klar wird, an wen sich dieses Stück eigentlich richtet: an Kinder, die beim ersten Auftritt der Mäuse ein begeistertes „Süß!“ ausrufen? An Jugendliche, die die ökologische Thematik interessiert? An Erwachsene, die mit den teilweise recht drastischen Untergangsschilderungen etwas anfangen können?

Nach einer knappen halben Stunde aber wandelt sich „Der Aufruf“. Weitere Tiere tauchen auf, ein Polarfuchs, eine Giraffe, ein Stör, die durch eine Botschaft aus ihren jeweiligen, unterschiedlich von der Katastrophe betroffenen Heimaten nach Bremen gelockt wurden. Im Dom solle angeblich Noah leben, der schon einmal eine Lösung für steigende Fluten gefunden hätte, womöglich könne der helfen. Das weitet die Ästhetik von „Der Aufruf“ deutlich, einerseits, weil Tiere, die aus einer misslichen Situation in die Stadt ziehen, in Bremen ohnehin ein fixer Topos sind (an einer Stelle wird das „Bremer Stadtmusikanten“-Motto „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!“ sogar wörtlich zitiert), andererseits, weil sich jetzt auch die Spielweisen diversifizieren. Die Giraffe ist eine auf den Kopf beschränkte, riesige Stabpuppe, der Fuchs eine Hinterkopfmaske, der Stör ein großes Stofftier, und Noah eine feingliedrige Marionette. Und weil dieses Bestiarium ausschließlich von Jeanette Luft und Leo Mosler bedient wird, ist das Ergebnis zwar kein besonders differenziertes, aber dafür ein handwerklich erfrischend vielschichtiges Spiel: Wenn sie mit Händen und Füßen gleich mehrere Puppen bewegen, können die zwei Spieler*innen nicht allzu viel Charakter in ihre Figuren legen, doch die technische Virtuosität ihrer Aktionen beeindruckt, zumal jede Puppe unterschiedlich gehandhabt werden will.

Als echte Hilfe erweist sich Noah übrigens nicht: Seine Sintflut-Erfahrungen sind schon lange her, und als wirklich erfolgreich bewertet er sein damaliges Handeln auch nicht, eigentlich will er nur in einer Kiste sitzen und auf den Untergang warten. Auf göttliche Hilfe kann man nicht bauen, das ist das (für den Spielort Dom durchaus brisante) Fazit von „Der Aufruf“. Stattdessen müssen die Tiere die Weltrettung selbst in die Hand nehmen, mehr noch: Sie müssen die Menschheit überzeugen, an einem Strang zu ziehen. „Das kann nur im Kollektiv gelingen!“, ruft die Maus an einer Stelle, und, ja, natürlich hat sie damit recht, aber irgendwie ist es auch müßig.

Immerhin weiß Stemann ein Mittel, die Menschheit zu einen: die Kunst nämlich. Nach dem etwas schleppenden Einstieg entwickelt „Der Aufruf“ eine große szenische Kraft, die weit über das virtuose Spiel mit den Puppen hinausweist. Wenn die Orgel sphärische Klangflächen in den dunklen Kirchenbau schickt, wenn die Mezzosopranistin Frauke Mey Mahler, Strauss und Mendelssohn-Bartholdy singt, wenn am Ende der Domchor aus dem Publikum heraustritt, um den Song „Keine Zeit“ der Berliner Liedermacherin Dota Kehr zu performen, dann führt das weit weg vom Figurentheater, hinein ins Musiktheater. Und wenn die Noah-Marionette an einer Stelle die Vergeblichkeit des eigenen Tuns beklagt, als winzige Figur auf einer Leiter in der bedrückenden Leere des Doms, dann ist das ein atemberaubendes Bild für das Geworfensein des Menschen.

Stemann also baut Bilder, die „Der Aufruf“ zum künstlerisch starken Statement machen, allein: Ob diese Bilder einen zu mehr Engagement gegen die Katastrophe motivieren, ist fraglich. „Ohne Wohlstandsverlust kann der Klimawandel nicht bekämpft werden!“, heißt es einmal, aber nach 90 Minuten Theater sehnt man sich doch vor allem nach ein bisschen mehr Bequemlichkeit. Zum Beispiel nach einer Heizung im recht unbequem kalten Kirchenschiff.

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Der Aufruf

Von Philip Stemann

Premiere: 5.11.2022

Mit Jeanette Luft, Leo Mosler, Frauke May (Gesang), Matthias Entrup (Vibraphon), Tobias Gravenhorst/Stephan Leuthold (Orgel)

Regie und Text: Philip Stemann

Puppen: Peter Lutz

Musikalische Leitung: Matthias Entrup und Tobias Gravenhorst

Bühne: Jürgen Lier

Kostüme: Jennifer Podehl

Dramaturgie: Dorit Schleissing

Fotos: Aleksandra Weber

Weitere Spieltermine:

MI        09.11.2022    19:00  Uhr    
DO      10.11.2022    19:00  Uhr    
FR      11.11.2022    19:00  Uhr    
SA      12.11.2022    16:00  Uhr    AUSVERKAUFT
SO      13.11.2022    16:00  Uhr    AUSVERKAUFT
DO      17.11.2022    19:00  Uhr    
FR      18.11.2022    19:00  Uhr    
SA      19.11.2022    16:00  Uhr   

 

www.menschpuppe.de

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