Die aktuelle Kritik

Theater der Dinge 2022, Berlin: "Spuren der Verunsicherung"

Von Tom Mustroph

Ein Fest der persönlichen Ansprachen: Unter dem Titel „Spuren der Verunsicherung“ lud die Berliner Schaubude zu ihrem traditionellen Festival "Theater der Dinge" ein.

Das Motto passt perfekt zu den multiplen Krisen unserer Zeit, wie auch der Berliner Kultursenator Klaus Lederer in seiner Eröffnungsrede nicht anzumerken vergaß. Sich einstellende Befürchtungen, dass der aufgeregte Krisendiskurs der Tagespresse nun auch dieses Festival ergreife, zerstreuten sich aber schnell dank der künstlerischen Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit der eingeladenen Produktionen. Und trotz aller globalpolitischen Unsicherheiten stellte sich als Allee der Sicherheit für gelingende Kommunikation zwischen Künstler*innen und Publikum das Mittel der individuellen Ansprache heraus. Das war vor allem bei den kleineren und intimeren Formaten zu beobachten.

Ein kleines Oval als Zuschauertribüne hatte die spanische Compagnie Oligor y Microscopía in das Theater Strahl in Berlin-Schöneberg gebaut. Lediglich ein paar Dutzend Besucher*innen drängten sich in den engen Sitzkurven. Eine Atmosphäre von Privatheit entstand, als sich Jomi Oligor mehrfach nach dem Befinden einiger Anwesender erkundigte. Er verteilte auch Sitzkissen, bot sogar mehrere Polsterelemente für einzelne Gesäße an. Man fühlte sich sofort gut aufgehoben und herzlich eingeladen in diesem Raum.

"Die Melancholie des Touristen" © Oligor y Microscopía

Oligor und seine Partnerin Shaday Larios erzählten in ihrer Performance „Die Melancholie des Touristen“ von Recherchen in Kuba und Mexiko. Sie warfen dabei Dias von Ansichtskarten an die Projektionsfläche ihres auf der Bühne installierten Miniaturtheaters. Sie ließen papierne Ansichtskarten auch auf einer Schnur quer durch den Zuschauerraum wandern – angetrieben durch eine analoge Kurbel. Überhaupt war ganz vieles analog und mechanisch bei dieser Produktion. Das Blitzlicht, mit dem eine Minikamera Fotos aufnahm, schlug ganz echte Funken. Ein Textband wurde ruckelnd abgerollt. Die Projektionen erfolgten mit altertümlichen optischen Geräten. Da drang wieder einmal Oligors seit Jahren gepflegte Leidenschaft für skurrile Automaten Marke Eigenbau durch. Die zahlreichen Retro-Apparate passten auch bestens zum Thema. Denn ins Stück aufgenommen wurden vor allem Begegnungen mit sehr betagten Protagonist*innen. In Havanna war dies eine alte Frau, die sich darüber zu wundern pflegt, dass die Tourist*innen bei ihr immer nur die ganz alten, halb kaputten Dinge fotografieren wollten, während sie selbst doch lieber neue Sachen haben möchte.

Im mexikanischen Acapulco wurde El Peque, ein alternder Star der lokalen Klippenspringerszene, zur Zentralgestalt der performativen Recherche. Der mittlerweile verstorbene Mann schwärmte von den guten alten Zeiten, als sich Liz Taylor und Clark Gable in Acapulco aufhielten und „Tarzan“-Darsteller Johnny Weissmuller so lange blieb, dass er gar seine letzte Ruhestätte im einst mondänen Badeort fand. Oligor und Larios führten behutsam ein in diese längst vergangenen Zeiten. Vor allem die Patina, die solcherart Erinnerungen in immer neuen Schichten bedeckt und sie als besonders kostbar und fragil erscheinen lässt, hatte es dem Duo angetan. „Melancholie des Touristen“ war eine anmutige Traumreise, die vor allem wegen der ganz persönlichen Beziehung der Performer*innen für ihren Stoff und ihre Protagonist*innen bezauberte. Da vergaß man zumindest für Momente auch gern, dass touristisches Reisen gleich mehrfach kontaminiert ist, wegen der Lebensstandardunterschiede zwischen Reisenden und Besuchten, wegen des ökologischen Fußabdrucks sowie wegen der kulturellen Stereotype, die Massentourismus befördert. Ein paar Spuren Bitteraromen mehr hätten dieser liebevoll angerichteten Produktion durchaus gutgetan.

"Der kleinste der Samen" © Johana Bártová

Bezaubernd einfach war auch das Ambiente von „Der Kleinste der Samen“. Man betrat ein Nebengelass der Schaubude, dessen Wände mit Decken verhüllt waren und das daher die Anmutung des Inneren einer Jurte hatte. Etwa ein Dutzend Zuschauer*innen versammelten sich dort und schauten auf einen kleinen runden Tisch. An ihm hatten sich bereits die beiden Puppenspieler Jakub Šulik und Matěj Šumbera sowie Regisseurin Johana Bártová, die während der Vorstellung Geräusche einspielte, niedergelassen. Man fühlte sich wie von den dreien eingeladen, nach einem langen, ereignisreichen Tag noch einmal zusammenzusitzen und Erlebnisse auszutauschen. Das Erzählen besorgten dann die drei, indem sie Kleinstfiguren von Polarkreisbewohner*innen auf der runden weißen Fläche platzierten und von einer Nahrungskrise der Rentiere berichteten. Diese Rentierherde ist manchmal so klein, dass die Figuren an einem langen Stab geführt werden müssen und eine große Lupe sie und den sie beschützenden Jungen aus dem Volk der Samen wie ein magisches Auge vergrößert. Dann wieder sind Rentiere und Same fingergroß. Weitere Figuren bestehen aus bizarr geformten Wurzeln, die mit beiden Händen bewegt werden. Die unterschiedlich großen Figuren erlauben Perspektivwechsel. Mal sieht man sie wie aus der Ferne, dann wieder scheinen sie ganz nah. Die Größenunterschiede zwischen einzelnen Figuren erlauben Effekte, wie man sie aus den Reisen des Gulliver zu Zwergen und Riesen kennt. Die Geschichte selbst ist sehr einfach strukturiert, im Grunde ein Stationendrama von Abenteuern bei der Nahrungssuche für die Rentiere. Wie sie in dieser Produktion der Theaterhochschule Prag erzählt wird, macht den kleinen Abend aber kostbar.

"Inbetween – Die andere Stadt“ © Judith Hanke

Kommunikation und vor allem Interaktion waren auch zentral in dem technisch völlig anders aufgebauten Projekt „Inbetween – Die andere Stadt“. Mit Tablets ausgestattet machte sich ein Teil des Publikums auf eine Expedition durch den nahen Thälmannpark. Ein mysteriöser Todesfall sollte anhand von auf die physische Realität projizierten Hinweisen aufgeklärt werden. Vor allem aber ging es um eine Doppelnatur von Stadt: Die eine war mit den Augen, die andere nur mittels der Animationen auf den Tablets zu erfahren. Die Frau, die zu Tode kam, war eine Reisende zwischen diesen Städten. Leider setzten die Projektentwickler Caspar Bankert, Sarah Buser und Tomás Montes Massa mit diesem Akzent das unsägliche „Tatort“-Narrativ der Frauen als Opfergestalt fort. Immer tiefer tauchte man in die Doppelgestalt der Städte ein und begann schon Berliner Passant*innen nach Zugehörigkeitsmerkmalen für die eine oder andere Stadt zu mustern. Eingebaut waren auch Sprachfelder, über die man in mündliche Dialoge mit vermeintlichen Bewohner*innen und auch Angehörigen mutmaßlicher Geheimorganisationen treten konnte. Im Vergleich zu den drei bislang besprochenen Produktionen war hier die Geschichte noch die verzwickteste. Aber auch hier bestand der Reiz vor allem im Austausch mit Mitspieler*innen im freien Gelände sowie den Gesprächsstrategien auf den Sprachfeldern.

Vielleicht ist es Zufall, dass die gelungensten Produktionen der diesjährigen Ausgabe von Theater der Dinge vor allem jene waren, die Nähe und Gemeinschaft herstellten. Auch die biografische Performance „War Maker“ des palästinensischen Künstlers Husam Abed wäre hier noch zu nennen. Vielleicht ist aber gerade aufgrund der zunehmend wahrgenommenen Großkrisen und Verunsicherungsmomente die Sehnsucht nach Nähe und Gemeinschaft auch so groß, dass gerade die genannten Produktionen für derartige Zuneigung sorgten. Zarte Verbundenheiten waren die schönsten Momente dieses Festivals, das doch den „Spuren der Verunsicherung“ nachgehen wollte.

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Theater der Dinge 2022

https://schaubude.berlin/de/projects/theater-der-dinge-2022/programm

Titelfoto Schaubude © Silke Haueiß

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