Die aktuelle Kritik

Imaginale 2023, Baden-Württemberg: "… und sie tanzten einen Tango"

Von Petra Bail

In schwierigen Zeiten brauchen die Menschen kleine Fluchten in Form von Zerstreuung und Vergnügen oder noch besser Illusionen, so, wie sie die Imaginale mit ihrem vielschichten Programm elf Tage lang geboten hat. Das Publikum konnte beim internationalen Theaterfestival animierter Formen, das nach der Corona-Zwangspause in diesem Jahr zum achten Mal stattfand, dem Eskapismus frönen.

Vom 2. bis 12. Februar war in Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Eppingen, Ludwigsburg und Schorndorf internationale Figurenspielkunst auf höchstem Niveau zu bestaunen. Dabei wurde wieder deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen Schauspiel, Tanz, Performance, Figurenspiel und Digitalkunst sind. Die einzelnen Produktionen von Solisten und Solistinnen sowie Ensembles aus 13 Nationen entwickelten eine eigenständige, sehr sinnliche Ästhetik, bei der Sprache nur marginal eingesetzt wurde. Zu sehen war die wunderbare Verwandlung der Wirklichkeit als eine Mischung aus Ernstem und Heiterem, Nachdenklichem und Träumerischem, Verspieltem und Dramatischem in den unterschiedlichen Stilen.

Der zweite Teil einer Trilogie
Eine sehr körperbetonte Begegnung von Artistik und Tanz mit Objekten zeigten Jarnoth und Moritz Haase von der Kompanie Raum 305. Die Uraufführung von „Oder doch?“ fand in Mannheim statt und war anschließend in Stuttgart zu sehen. Das Stück ist der zweite Teil einer Trilogie über kapriziöse Beziehungsformen. Mit dem Auftakt „Wir wollen nie nie nie“ waren Puppenspieler Jarnoth und Trapezkünstler Haase die Lieblinge der Imaginale 2020. Im zweiten Teil wird an Heidi Brühls 60er Jahre-Hit „Wir wollen niemals auseinandergehen“ angeknüpft. Er schaukelt aber nicht als langsamer Walzer daher, sondern flammt als akustisch-treibendes Elektrobeat-Einsprengsel auf – schließlich ist das impulsive Darsteller-Paar ein Stück weiter. Inzwischen steht die Frage im Raum, „oder doch?“ – Trennung? Beantwortet wird sie in den 70 Minuten nicht, schließlich ist die Performance eine Trilogie, da wartet noch Beziehungsarbeit. Die inhaltliche Auseinandersetzung offenbart sich als Reigen, bei dem der Puppenspieler und der Trapezkünstler förmlich aufeinanderprallen, am Boden und bei einem leidenschaftlichen Tango, der mehr einem grotesken Kampf, als einem sinnlichen Tanz gleicht.

Zwei Türen symbolisieren die bewegte Entscheidungsfindung, die letztlich auch eine Challenge mit Objekten ist. Wer kann’s besser? Aus einem Stoffkokon kriecht eine kleine, klapprige Holzfigur. Auf der Bühne wird nicht nur sie animiert. Eine mysteriöse dritte Hand kommt ins Spiel, irres Gelächter, geheimnisvolles Nebelwabern, unheimliches Knarzen kombiniert mit schnellen, ekstatischen Bewegungen zu peitschenden Beats. Mensch und Figur zwängen sich windend durch winzige Türöffnungen, schwingen sich mit dem Trapez hoch hinauf – ein Wettbewerb in Verrenkungen, Drehungen und Beweglichkeit. Mal ist die Holzfigur im Vorteil, mal der Artist. Ein sehenswerter, dynamisch-skurriler Höhenflug.

Ein packender Befreiungsschlag

Um eine traumatische Erfahrung zu verarbeiten, hat die Künstlerin Gony Paz ihr eigenes Rezept entwickelt. Sie nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch Zeit und Raum; sie schlüpft in verschiedene Rollen aus der Filmgeschichte und Popkultur, um zu sich selbst zu finden. Auf eine sehr berührende und außergewöhnliche Weise verarbeitet die israelische Performerin und Figurenspielerin die bittere Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs und befreit sich am Ende spektakulär wie einst Uma Thurman mit Samurai-Schwert in actiongeladener Kill Bill-Manier. Dabei darf sogar gelacht werden!

Selten hat man den Umgang mit übergriffiger Gewalterfahrung so gewaltlos erlebt. In „Sweetie you ain’t guilty“ entwickelt Gony Paz ähnlich wie Regisseur Quentin Tarantino eine Splatter-Ästhetik, die Humor als starkes Transportmittel für die überaus sehenswerte Inszenierung benutzt. Das Stück ist bunt, unterhaltsam und braucht nicht mehr als das Stuttgarter Publikum, das von rosa Zetteln, die englische Gebrauchsanweisung zum Stück vorlesen darf. Dass manches Englisch holpert, darüber hört man weg.

Klar, eine Solo-Show kann man nicht alleine machen. Zur Lebensbewältigung braucht’s andere Menschen. Auf der Bühne bediente sich Gony Paz noch eines Tablets, eines goldenen Nixenschwanzes und besagtem Säbel. Es ist ein buntes Bewegungsspiel mit digitalen Möglichkeiten, Mythologie und Märchen. Allerdings ist so ein Fischschwanz, wie sich zeigt, ziemlich hinderlich, auch wenn er einer betörenden Meerjungfrau gehört. Da kommt die amerikanische Rockikone Kurt Cobain ins Spiel. Paz röhrt wie der frühere Nirvana-Frontmann in einer packenden Gesangsnummer ihren Schmerz hinaus. Dann endlich, der Tag der Rache, der Befreiungsschlag, im gelben Uma Thurman-Outfit wie in „Kill Bill“ tötet sie ihren imaginären Peiniger. Dreimal spult sie die Szene ab. Respekt vor diesem grandiosen Bewegungstheater, säbelschwingend und fantastisch stepptanzend wie einst Ginger Rogers. Packender kann ein Befreiungsschlag kaum sein. Abstrakt? Ja! Aber unglaublich anrührend und mitreißend. Chapeau.

Nur kein Stillstand

Nichts bleibt, wie es ist. Die Dinge verändern sich – sie können gar nicht anders. In der Versuchsanordnung „Wände“ wird das plastisch. Eine große Faltwand bewegt sich wie durch Magie, schiebt sich nach vorne, klappt auf und wieder zusammen. Anfangs befindet sich das Publikum außerhalb dieser unheimlichen Bewegungen der Materie, dann plötzlich rückt das Gebilde wie von Geisterhand näher, man droht eingekesselt zu werden. Aufgepasst! 30 Minuten lang dauert das spannende Verschiebespiel in Stuttgart, das die Zuschauerinnen und Zuschauer in Bewegung hält und zu bewusstem Wahrnehmen veranlasst. Einen festen Standpunkt gibt es nicht, das ist sinnbildlich gemeint. Durch Veränderung ergeben sich neue Perspektiven. Nur kein Stillstand. Man muss auch die eigene Position immer wieder neu überdenken und verorten.

Eine schöne metaphorische Arbeit, die die Spielerinnen Cèlia Legaz Soler und Clara Palau y Herrero mit ihrem Team entworfen haben. In stets neuen Variationen positionieren sie durch kräftiges Schieben die Wand im Raum, Bilder und neue Bezüge entstehen. Das Publikum wird auf Schlitze und Spalte aufmerksam gemacht, durch die es andere Ein- und Ausblicke gibt. Alles Statische hat hier keinen Platz, diese kleine Wand-Welt ist in stetiger Bewegung, entwickelt sich fort, zeigt Neues, genau wie die Imaginale im Lauf der vergangenen Jahre. Man darf gespannt sein, womit die Macherinnen und Macher aus Stuttgart ihre Gäste in der kommenden Festivalausgabe überraschen.

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Oder doch?
Uraufführung
Regie: Philipp Boë, Musik: Thimo Pommerening, Choreografie: Rudolf Giglberger, Bühne: Jakob Vonau und Daniele Drobny, Licht: Julia Lochmann und Werner Wallner, Kostüme: Stefanie Krimmel.
Mit: Jarnoth und Moritz Haase.
Foto: Rene Erhardt

Sweetie you ain´t guilty

Konzept, Spiel: Gony Paz, Künstlerische Begleitung: Anna Zakrevsky, Raz Weiner, Yair Vardy , Licht: Amir Castro, Textbearbeitung: Raz Weiner, Beratung: Mai Eilon

Thanks to Iris Paz Bareket, Erez Yardeny, Rotem Elroy, Chihiro Ishiyama, Omri David, Ana Sgan-Cohen, Faye Shpiro, Kurt Cobain, Michal ben-Anat, Ira Avneri, Sigal Bergman, Yair Vardiand, Tal Yahas, Nava Zuckerman
Fotos: Dana Meirson

Wände

Spiel: Cèlia Legaz Soler & Clara Palau y Herrero, Szenografie: Margot Ardouin, Outer Eye: Stefanie Oberhoff, Regie: Britta Tränkler
Foto: Heinrich Hesse

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