Die geteilte Zeit

von Tom Mustroph

Die Covid-19-bedingte Digitalisierung im Theater könnte die bisherige Definition des gemeinsam geteilten Raumes hin zum Erleben einer gemeinsam erlebten Zeit verändern. Beobachtungen aus den Home Offices in den Darstellenden Künsten.

Die Werkzeug-Palette erweitert sich gerade. Im Home Office werden Proben und Dramaturgiesitzungen auf die Videokonferenzplattformen Skype und Zoom verlagert. "Wir proben jetzt online", berichtet etwa Larissa Jenne. Ihr Objekttheater-Ensemble Mysharedspace plant noch auf die Premiere im Mai in der Berliner Schaubude hin. Jetzt, in der ersten Probenphase, ist die Online-Situation für Jenne noch völlig unproblematisch. "Wir tauschen uns gegenseitig über unsere Recherchen aus, zeigen, was jede und jeder von uns zu Hause gearbeitet hat", berichtet sie. Jenne kann sich auch vorstellen, dass distanziert geprobt wird. Jede Spielerin agiert dann von zu Hause aus mit ihrer Figur.  "Das könnte gehen. Aber irgendwann müssen wir auch zusammenkommen und gemeinsam proben", blickt sie in die nahe Zukunft voraus.

 

Schauspielschule auf der Gaming-Plattform

Digitale Gemeinsamkeit versuchen derzeit die Puppenspieler der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" herzustellen. Weil sie dank des Lehrstuhls Digitale Medien schon länger in virtuellen Räumen und auf digitalen Plattformen unterwegs waren, übernehmen sie sogar eine Pionierrolle für die gesamte Hochschule. Digitalprofessor Friedrich Kirschner bringt eigene Videospiel-Erfahrung in die Digitalisierung des Lehr- und Probenbetriebs ein.

"Wir nutzen den Dienst Discord, der bei Videospielcommunities beliebt ist. Er stellt viele Dinge zur Verfügung: Videotelefonie mit bis zu 10 Leuten, Sprechgruppen mit bis zu 50 Leuten und Diskussionskanäle, in denen Debatten sortiert und Gruppenzugehörigkeiten hergestellt werden können", erzählt Kirschner. Discord schafft Möglichkeiten, die über Zoom oder Skype hinausgehen, und rettet zugleich ein paar Formen der althergebrachten Kommunikation in den neuen digitalen Alltag. "Viele der Arten und Weisen, wie wir bis jetzt kommuniziert haben, funktionieren im Home Office nicht mehr so gut. Telefonieren kann ich nur mit einer Person, es sei denn, ich kenne mich wahnsinning gut aus mit Telefonkonferenzen. Mit Videokonferenzen stellt sich auch die Frage: Wer redet wann? Es gibt viele neue Umgangsformen, die erst einmal eingeübt werden müssen, damit man überhaupt zu einer Handlungsfähigkeit kommt, die der bisherigen ähnelt", beobachtet Kirschner. Auf Discord hat die Hochschule sich jetzt gewissermaßen selbst nachgebaut. "Es gibt einen offenen Mensa-Kanal. Da können 50 Personen mit dem Headset hineingehen und miteinander reden. Außerdem haben wir Räume für die einzelnen Bereiche der Hochschule gebaut, so dass der Email-Verkehr stark entlastet werden konnte. Für uns war wichtig, dass wir in Teams über mehrere Themen diskutieren können, dass man dabei die Räume wechseln kann und auch in der Lage ist, den Verlauf einer Diskussion nachlesen zu können, wenn man mal drei Stunden offline war", beschreibt Kirschner die Herangehensweise.

Ähnlich geht auch die Schaubude vor. "Wir haben unsere Struktur ebenfalls auf Discord nachgebildet", erzählt Tim Sandweg, Intendant der Schaubude.

 

Geteilte Performance via Zoom

Für den Probenbetrieb reichen solche Tools aber nicht aus. Eine Variante ist, die Möglichkeiten von Videokonferenzplattformen auszutesten. Stefan Kaegi vom Regiekollektiv Rimini-Protokoll führte letzte Woche an der Schweizer Theaterhochschule Manufacture einen Workshop auf Zoom durch. Es ging dabei um geteilte Performances. "In diesem Workshop hat mich interessiert, ob wir irgendetwas von dieser Sinnlichkeit, von diesem Zusammensein, auch von dem Postdramatischen, das nicht am Wort hängt, sondern mit Räumen zu tun hat, mit Gerüchen und mit Interaktion - ob wir davon etwas in diese doch sehr oft unsinnliche Livesituation unserer digital vermittelten Arbeitsbesprechungen übernehmen können", beschrieb er gegenüber Fidena sein Anliegen. Die 13 Workshop-Teilnehmer forderten sich gegenseitig auf, die Bücher in die Kamera zu halten, in denen man zuletzt gelesen hatte. Blumen wurden vor den Screen geholt. Das Laptop wurde auf den Weg in den Flur mitgenommen und so der Bewegungsradius im Home Office ausgemessen. Auch ein gemeinsames Händewaschen wurde veranstaltet. Das hatte durchaus Reize. Die Grenzen von Zoom wurden dann aber beim Versuch eines gemeinsamen Karaokes deutlich. Wer am lautesten sang, sich am nächsten am Mikro befand oder sich einer Frequenz bediente, die den Algorithmus am besten ansprach, wurde von der Software als Tongeber ausgewählt. Nur diese Gesangsschnipsel wurden auf die Lautsprecher der anderen ausgegeben. Chorisch funktioniert Zoom einfach nicht. Mit dem Reiz des Unvollkommenen lässt sich allerdings auch arbeiten.

 

SMS-Theater, virtuelles Straßentheater, hybride Online / Offline-Räume

Einen anderen Zugang zur Gleichzeitigkeit wählt derzeit die Gametheater-Gruppe machina eX. Sie passt eine Smartphone-App, die sie bei ihrem Stadtrundgang "Patrol" im letzten Jahr genutzt hat, auf neue Projekte an. "Wir wollen auf der Basis dieser Technologie ein neues Skript entwickeln. Dabei soll eine Interaktion über SMS und Anrufe nicht nur mit der Software, sondern auch der Teilnehmer untereinander möglich sein", blickte Clara Ehrenwerth von machina eX gegenüber Fidena in die nahe Zukunft voraus. Gleichzeitigkeit wird hier über die Smartphones hergestellt.

Am geteilten Erlebnis im virtuellen Raum arbeiten die CyberRäuber. Ihre ursprünglich für den April geplante Premiere von "Cyberballett" im realen Bühnenhaus des Badischen Staatstheaters Karlsruhe verlagern sie in einer virtuellen Auskopplung auf die Plattform VRChat. Dies ist eine frei zugängliche digitale 3D-Welt, die von Avataren bevölkert wird. Bei den Proben zu "Biene im Kopf", einem vor zwei Jahren im Theater an der Parkaue produzierten Stück für Publikum mit und ohne VR-Brille, transferierten sie bereits die Opernsängerin Jess Gadani per motion capture-Verfahren in den virtuellen Raum. Als die Mezzosopranistin dort ihre Stimme erklingen ließ, konstituerte sich ein Theatermoment. „In all dem Chaos der verschiedenen Avatare herrschte plötzlich Stille. Eine ganze Gruppe von ihnen versammelte sich um Jess. Einer malte mit einem Stift sogar eine Bühne um sie. Es entstand auf einmal eine soziale Struktur“, erinnert sich CyberRäuber Marcel Karnapke gegenüber Fidena.

Ähnliches haben er und sein Kollege Björn Lengers nun mit dem "Cyberballett" vor. Per motion capture aufgezeichnete Bewegungen von Balletttänzern sollen auf die VR-Plattform transferiert werden. "Zuschauer können sich dann von zu Hause aus mit einer VR-Brille in die Plattform einwählen und virtuell interagieren", blickt Lengers voraus. Inhaltlich wird es in der Geschichte um eine künstliche Intelligenz gehen, die Sehnsucht nach einem leiblichen Körper hat.

Eine Beteiligung an diesem Projekt kann aber auch ohne VR-Brille funktionieren. "Man wählt sich einfach mit dem Computer ein und kann sich dann individuell durch die virtuellen Welten bewegen", meint Lengers. Als dritte, und vom Erlebniswert her schwächste Variante bietet er an: "Wir könnten zu einer bestimmten Zeit live in die Inszenierung gehen und als Kameraleute einen Livestream produzieren." Lengers würde dafür die Plattform Twitch wählen, die neben dem Livestream noch einen Interaktionskanal für Zuschauende bereit hält. Für die CyberRäuber sind auch in der Virtuellen Welt gleichzeitiges Erleben und der Austausch darüber wichtig.

Ähnliche Erfahrungen hatte in der Vergangenheit bereits Roman Senkl von der Gruppe onlinetheater.live gemacht. Sie produzierte teilweise komplett für das Netz, nutzte dabei auch die Streamingplattform Twitch, die Interaktionen zwischen Publikum und Spielern zulässt. Sie bewegte sich aber auch im hybriden Raum aus On und Off. "Eine Überschreibung von 'Hamlet' mit 'Blade Runner' spielte einerseits im Bühnenraum des Theaterdiscounter. Die Spieler waren aber auch die gesamte Zeit als Blogger online und kommunizierten mit Publikum im Internet", erzählt Senkl. "Am meisten hatten die Leute davon, die im Theaterdiscounter saßen und zugleich auf ihren Handys mit unseren Spielern kommunizierten", erinnert sich Senkl.

Derartige Formate im Bühnenraum sind angesichts der aktuellen Beschränkungen aber nicht denkbar. Senkl, mittlerweile am Theater Dortmund engagiert und parallel an der Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund, ist gegenwärtig dabei, einen Spielplan 3.0 zu erstellen - eine Übersicht über virtuelle und digitale Tools und Projekte, die in Covid-19-Zeiten funktionieren, aber auch darüber hinaus relevant sein könnten.

 

Welche Distributionsplattformen braucht das Post-Covid-19-Theater?

Wachsende Bedeutung sollte in den kommenden Wochen und Monaten auch der Debatte über die geeigneten Distributionsplattformen zukommen. Nutzt man Youtube, Vimeo, Twitch und Instagram? Sind auch narrative Formate über Twitter interessant? Die Schaubude etwa entwickelte bereits 2016 unter dem hashtag #theaterderdinge ein Twittertheater mit Posts zu interessanten Objekten im Rahmen des Festivals Theater der Dinge. Ambitionierter wäre die Entwicklung eigener Plattformen, die dann auch ein erweitertes Set an Möglichkeiten enthalten. Das allerdings braucht Geld. "Und es braucht Menschen, die diese Infrastruktur bereitstellen", mahnt Digital-Professor Friedrich Kirschner. IT-Abteilungen in den Theaterhäusern sollten dann also auch personell aufgestockt werden.

Ganz neue Räume könnten sich über die spielerische Benutzung des Internets der Dinge eröffnen. "Es gibt seit Jahren Plattformen für das Internet der Dinge, mit denen man Rolläden hoch und runter fahren oder Temperatureinstellungen online verändern kann", sagt Kirschner. Der Haken dabei: Das greift stark in die Privatsphäre ein.

Angesichts dessen hat das Objekttheater im realen Raum dann doch wieder seine Berechtigung. Mysharedspace etwa bereitet für die Schaubude eine offline existierende Wohnung als Spielort vor. "Durch Objekte und Puppen wird die Wohnung zum Leben erweckt", blickt Larissa Jenne voraus. Objekte und Puppen erzählen dabei vom Leben der abwesenden Bewohnerin, von ihrer Online-Chat-Partnersuche und den sich daraus ergebenden - oder vielleicht auch nur imaginierten - Treffen. Das Projekt ist als begehbare Installation für jeweils einen Zuschauer gedacht. Ob es in der ursprünglich angedachten Form stattfinden kann, hängt natürlich von den Entwicklungen der Pandemie und den sich daraus ergebenden Anordnungen ab. Die Distanz von Einzelbesucher*in und Spieler*innen könnte erhöht werden, nach jedem Durchgang die Installation desinfiziert werden.

Die aktuelle Situation lädt das Projekt zudem noch inhaltlich auf. "Ein Aspekt des Stücks war die Einsamkeit der Bewohnerin. Diese Gefühlsebene verstärkt sich jetzt noch. Und wir selbst kommunizieren jetzt auch viel stärker online, als wir das eigentlich geplant haben. Für die Stückentwicklung ist diese Praxis sicherlich positiv", lautet das Zwischenfazit von Jenne. Covid-19 kann also auch positive Einflüsse auf die künstlerische Arbeit haben.

 

Digitale Formate bei Fidena

Hybride Formen aus Digitalität und dinglicher Wirklichkeit sind auch bei Fidena selbst am Entstehen. Die etwa 150 Exponate umfassende Fritz Wortelmann Puppensammlung wird derzeit digitalisiert. "Ein ausgewählter Teil der Sammlung wird dann über eine VR-Brille zugänglich sein. Es ist ein Querschnitt durch verschiedene Spielformen. Die Figuren werden digital animiert und mit Hilfe von Videobeispielen in ihrem 'natürlichen Lebensraum', der Inszenierung, gezeigt", erzählt die Leiterin Annette Dabs. Zugang zu den Brillen wird es vorerst aber nur offline geben, am Standort des dfp.

Während der ursprünglich geplanten Laufzeit des Fidena-Festivals wird es online den Liebesliederwettbewerb Grand Prix d'Amour geben. "Bewerben kann sich jeder. Maximale Länge ist vier Minuten. Und sicher wird es von der Jury positiv aufgenommen, wenn Objekte, Puppen und Figuren eine Rolle in den Liedern spielen", meint Dabs. Bewerbungsbeginn ist der 14. April. Einen Liebesliederwettbewerb hatte es bereits 2008 bei Fidena gegeben, damals noch offline.

 

https://www.schaubude.berlin/spielplan/05/abendprogramm/mysharedspace/

https://www.hfs-puppe.de/team/friedrich-kirschner

https://www.rimini-protokoll.de/

https://www.machinaex.com/

http://wp11159761.server-he.de/vtheater/de/home/

https://onlinetheater.live/

https://www.theaterdo.de/biografie/person/roman-senkl/

https://theater.digital/#

https://twitter.com/hashtag/theaterderdinge

https://www.fidena.de/publish/viewfull.cfm?objectid=1a78443f%5Fc20a%5Fbd9b%5Ff8feebb86c03c9e9

https://www.fidena.love

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