Die großen und die kleinen Geschichten

Essay zur Rolle des Figurentheaters zwischen Pop- und Hochkultur von Dr. Dr. Albrecht Fritzsche

Im zeitgenössischen Theater treffen verschiedene Traditionslinien aufeinander, die zumindest in der europäischen Kultur auf zwei ganz unterschiedliche Ursprünge des Bühnenspiels verweisen. Ich vertrete in diesem Aufsatz die These, dass dem Figurentheater zwischen beiden eine vermittelnde Rolle zukommt.

Auf der einen Seite führen die Traditionen des Theaters zurück auf rituelle Handlungen: religiöse Spiele, die eine Erfahrung mit sich bringen, die über den menschlichen Alltag hinausgeht. Theatergebäude sind demnach Kultstätten, in denen höhere Mächte beschworen werden. Während der Aufführung eines Stücks sind die Darstellenden auf der Bühne nicht sie selbst, sondern verkörpern etwas Anderes, das durch sie in die Welt kommt. Platon thematisiert diesen Vorgang im Dialog mit dem Schauspieler Ion und kritisiert dabei die Abkehr von der eigenen Vernunft, die mit der Besessenheit des Schauspielers durch eine höhere Macht einhergeht. Durch Nietzsche ist der Begriff des dionysischen Rausches bekannt geworden, von dem ein Künstler auf der Bühne erfasst wird, der aber auch viel weiter in das menschliche Leben hineinwirkt.

Auf der anderen Seite führen die Wurzeln des zeitgenössischen Theaters zurück auf eine Populärkultur, die sich nur sehr wenig um höhere Mächte schert. Sie bleibt stattdessen in der menschlichen Alltagswelt verhaftet und ist auch nicht auf besondere Kultstätten angewiesen. Sie kann überall stattfinden, wo Menschen sich versammeln: auf dem Wochenmarkt, dem Volksfest, dem Boulevard. Solche Orte sind nicht eigens für Theateraufführungen konzipiert. Was immer dort zur Aufführung gebracht wird, ist niemals frei von Störungen. Schon allein deshalb bieten diese Orte schlechte Voraussetzungen, um von höheren Mächten ergriffen zu werden. Deshalb eignen sie sich auch mehr für kurze Formate, schnelle Pointen, Zoten und flache Witze. Dies alles ist für eine Hochkultur schwer zu ertragen. Die großen Geschichten, die dort erzählt werden, können meist sehr wenig mit einem Witz anfangen, der sie wieder zurück holt auf den Boden der menschlichen Alltagswelt, wo eben viel kleinere Geschichten erzählt werden.

In der Hochkultur lässt sich immer wieder eine besondere Faszination für Populärkultur erkennen. Ein Beispiel unter vielen ist die Opera Buffa bei Mozart, Rossini und anderen, die sich eng an den Strukturen der Commedia dell’Arte orientiert und damit direkt an das Treiben auf Marktplätzen, Volksfesten und Boulevards anknüpft. Die kleinen Geschichten bilden die Grundlage neuer Werke, in denen sie aber durch die Genialität der Künstler und die Aufführungspraxis an besonderen Orten so weit veredelt werden, dass es zu Überhöhung kommt. Auf diese Weise tritt der Alltagscharakter des Stücks in den Hintergrund und weicht einer spirituellen Erfahrung auf einer anderen Ebene. Gibt es aber auch eine Transformation in die andere Richtung?

Hier spielt das Figurentheater eine wichtige Rolle, das natürlich in der Populärkultur verankert ist. Kasperle, Seppl, Grete, Punch und Judy trieben jahrhundertelang ihr Unwesen auf Wochenmärkten, Volksfesten und Boulevards. Entscheidend ist aber, wie sie das taten. Figurentheater in der mobilen Guckkastenbühne mit handlichen Puppen ist nicht nur Alltagskultur, sondern Verkleinerung der Hochkultur. Die Kultstätte wird zum transportablen Holzverschlag. Die großen Künstlerinnen und Künstler werden zu Holzköpfen. Neben dem Kasperle treten auch Könige, Bischöfe, Generäle und andere Figuren des öffentlichen Lebens auf, die als Figuren unweigerlich zur Karikatur ihrer selbst werden. Am stärksten wiegt aber wohl die Tatsache, dass sie durch Schausteller geführt werden. Wo die Hochkultur von göttlichen Mächten spricht, welche die Künstlerinnen und Künstler durchdringen, hängen die kleinen Figuren in ihren Guckkästen an Fäden, Stangen oder sind gar nur Überzüge von Händen, die zu höchst weltlichen Körpern gehören. Das ganze Brimborium der Hochkultur wird damit auf sehr unsanfte Weise wieder zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Dieser Hang zur Brechung der großen Geschichten ist bis heute typisch für das Figurentheater geblieben und hat viele andere Ausdrucksformen gefunden, in den politischen Satire der Guignols (Collovald, und Neveu, 1996) genauso wie dem Anarchismus der Muppets (Abate, 2009).

Ganz ohne Kleist kommt dieser Aufsatz nun natürlich auch nicht aus. Was Kleist in seinem Text Über das Marionettentheater beschreibt, ist ja ebenfalls ein Aufeinandertreffen von Hochkultur in Person des berühmten Tänzers mit Populärkultur in Form des Theaterspiels auf dem Marktplatz. Der Tänzer drückt seine Bewunderung für die Spielfiguren aus als Ideal, an dem sich der Tänzer orientieren solle. Ähnlich spricht Craig (1957) über den Schauspieler als Über-Marionette. Es ist nicht schwer, dahinter den alten Gedanken der rituellen Handlung zu erkennen, in der die Ausführenden nicht mehr sie selbst sind, sondern zu Medien werden, durch die etwas anderes einen Ausdruck findet. Coeckelbergh (2017) dokumentiert ähnliche Überlegungen in unserem heutigen Umgang mit Robotern, die auch schon zu Kleists Zeit populär waren. Das alles funktioniert aber eben nur dann, wenn der Guckkasten, in dem es stattfindet, selbst nicht weiter zum Thema gemacht wird. Und dieser Guckkasten kann ganz verschiedene Formen annehmen, von der Fabrik, in der sich Technik inszeniert, bis hin zum sozialen Medium, wo wir unsere vordefinierten Idealrollen pflegen.

Geht man zurück zu den Ursprüngen des Theaters, so kann man sagen, dass die Figur der Populärkultur ihr Gegenstück in der Maske der Hochkultur hat. Masken verschiedenster Art sind in rituellen Handlungen allgegenwärtig. Sie unterstützen die Vereinnahmung der darstellenden Person durch eine höhere Macht, indem sie ihre Individualität verbergen. Interessant ist, dass Figurentheater genau dort, wo es in die Hochkultur hineinragt, meist auch zum Verbergen neigt. Oft genug findet die künstlerische Veredelung dadurch statt, dass die Steuerung der Figur verborgen wird. Begünstigt wird dieser Prozess dadurch, dass Figurentheater heute eben auch nicht mehr so oft auf Marktplätzen anzutreffen ist, sondern sich seine eigenen Kultstätten gebaut hat, wo die technische Infrastruktur für eine solche Veredelung vorgehalten werden kann. Tatsächlich wäre für das Figurentheater aber wohl nicht das Verbergen typisch, sondern das Distanzieren. Ich würde sagen, dass Figurentheater gerade dort zu sich selbst findet, wo diese Distanzierung sichtbar ist, sichtbar bleibt oder auf besondere Weise sichtbar gemacht wird. Wir müssen wissen, dass wir uns in einem Guckkasten befinden, und sehen, dass da jemand ist, der das Spiel steuert. Unsere Phantasie gibt uns dann immer noch genügend Raum, um uns auf das Spiel einzulassen und den Zauber einer Aufführung zu erleben - auf Basis unserer eigenen Entscheidung, dies zu tun.

 

Ein paar Quellen

Abate, M. A. (2009). Taking Silliness Seriously: Jim Henson's The Muppet Show, the Anglo‐American Tradition of Nonsense, and Cultural Critique. The Journal of Popular Culture, 42(4), 589-613.

Coeckelbergh, M. (2017). New romantic cyborgs: Romanticism, information technology, and the end of the machine. Cambridge: MIT Press.

Collovald, A. und Neveu, E. (1996). Les «Guignols» ou la caricature en abime. Mots. Les langages du politique, 48(1), 87-112.

Craig, E.G. (1957). On the Art of the Theatre, 2nd edition. New York: Theatre Arts Books.

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