Alles ist Figurentheater - oder nichts?

Essay zur Genrefrage des Figurentheaters von Dr. Dr. Albrecht Fritzsche

 

Was genau ist eigentlich Figurentheater? Dem Namen nach ganz einfach ein Spiel mit Figuren, das in irgendeiner Weise als Bühnenvorstellung beschrieben werden kann. Diese Antwort wirft jedoch zahlreiche weitere Fragen auf. Was ist eine Figur? Das Abbild eines Menschen? Das Abbild eines Lebewesens? Oder einfach jedes Objekt, dem auf der Bühne eine handelnde Rolle zugewiesen wird oder das in irgendeiner Form als Person angesprochen wird? Und was genau ist eine Bühne? Ein Guckkasten? Ein erhöhter Bereich, der Vortragende vom Publikum trennt? Oder alles, was irgendwie in Szene gesetzt wird? Aber was bedeutet es etwas in Szene zu setzen, was ist ein Spiel? Ist nicht die ganze Welt ein Spiel? So zumindest heißt es bei Elvis Presley, und wenn man dem nicht glauben kann, wem sonst?

Es ist sehr schwer, eine akkurate Definition des Figurentheaters zu formulieren. Auch dann, wenn man statt Figurentheater von Puppentheater im engeren Sinne oder Objekttheater im weiteren Sinne spricht, wird das Problem nicht einfacher. Entweder fallen einzelne Aufführungen, die man gern dem Figurentheater zurechnen würde, aus der Definition heraus, oder sie geht so weit, dass sie alles Mögliche erfasst, das man eigentlich nicht mitzählen möchte. Wir weisen im Alltag ja ständig irgendwelchen Gegenständen eine handelnde Rolle zu, insbesondere dann, wenn wir sie als technische Geräte benutzen. Könnten alle noch existierenden Elvis-Imitatoren deshalb nicht zurecht die Aussage ihres Vorbilds weiterdichten, indem sie sagen, dass technisches Handeln insgesamt auch schon Figurentheater ist?

Nicht nur das Figurentheater schlägt sich mit Definitionsproblemen herum. Man kann sie in ähnlicher Weise auch an anderer Stelle beobachten. Science Fiction, Rockmusik, Punk, Fitness, Rätsel... nie lassen sich die Grenzen genau ziehen. Genau dies ist charakteristisch für so genannte Genres, über die Frow (2015) schreibt, dass das, was man ihnen zurechnet, eben nie genau dem entspricht, was man vom Genre allgemein erwartet. Allein durch den Inhalt lässt sich die Zugehörigkeit zu einem Genre nie exakt bestimmen. Elvis wäre wieder ein wunderbares Beispiel, aber es gibt auch viele andere. So gibt es etwa unter Autoren und Fans der Science Fiction seit der Entstehung dieses Begriffs lange Diskussionen, was diesem Genre zuzurechnen ist. Star Wars? Natürlich. Frankenstein? Da ist auf jeden Fall mehr Science drin als in Star Wars. Jurrasic Park? Auch. Wurde aber nie so vermarktet. Goethes Faust? Nö, oder? Aber wenn Star Wars dazugehört, warum dann nicht der Faust? Robert Silverberg, einer der wichtigsten Autoren der Science Fiction im späten zwanzigsten Jahrhundert, hat es auf die folgende Formel gebracht: „Science Fiction ist das, was ich schreibe, wenn ich Science Fiction schreibe“ (Fritzsche, 1998). Die Zugehörigkeit zu einem Genre geht also mit einem bestimmten Anspruch einher, den Silverberg aus seiner Position als Autor formuliert. Er kann das aufgrund seiner Bekanntheit sehr entspannt tun. Er kann darauf bauen, dass sein Anspruch von denen geteilt wird, die Science Fiction publizieren und rezipieren und ihn als einen ihrer eigenen Leute akzeptieren. Ohne diese Resonanz von anderen Beteiligten könnte Silverberg seinen Anspruch aber nur schwer aufrechterhalten.

Vieles davon lässt sich auf das Figurentheater übertragen. Es gibt eine Szene, die für sich in Anspruch nimmt, Figurentheater zu betreiben, in produzierender, publizierender oder rezipierender Rolle. Innerhalb dieser Szene stößt der Anspruch, zum Figurentheater dazu zu gehören, auf Resonanz. Außerhalb aber nicht. Ingenieure, die sich mit Robotik beschäftigen, könnten behaupten, dass ihre Arbeiten zum Figurentheater zu zählen sind. Die Szene würde das jedoch wohl ganz anders sehen. Umgekehrt könnte man aus der Szene heraus in Anspruch nehmen, dass in der Psychotherapie ja auch Figurentheater betrieben wird, wenn die entsprechenden Fachleute mit Avataren arbeiten. Diese Fachleute müssen aber nicht zustimmen. Üblicherweise gibt es bei einem Genre immer eine Partei, die es möglichst groß machen will, um seine gesellschaftliche Relevanz zu betonen, und eine andere Partei, die genau das verhindern will, damit das Genre nicht verwässert wird. Man kann sich anschauen, was in den vergangenen Jahrzehnten mit Science Fiction, Fantasy, Popmusik und Schlager geschehen ist, um die positiven und negativen Folgen von Ausdehnung und Verengung eines Genres zu verstehen.

Um nun Studien eines Genres voranzutreiben, bietet es sich an, eine systemtheoretische Perspektive einzunehmen. Systeme können als Strukturen, die auf der Interaktion ihrer einzelnen Beteiligten basieren, eine kontinuierliche Veränderung ihrer charakteristischen Parameter zulassen. Als offene Systeme erlauben sie eine Erneuerung ihrer einzelnen Bestandteile, die dann jedoch immer mit besonderem Aufwand einher geht, um die Identität des Systems aufrecht zu erhalten und es von seiner Umwelt zu differenzieren. Von Bertalanffy bis Luhmann wurden diese Dynamiken eingehend erforscht. Wichtig ist dabei aber auch, was Checkland (1981) und viele andere besonders betonen: nichts ist wirklich ein System. Alles kann als System betrachtet werden, um bestimmte Dynamiken erfassen und verstehen zu können, aber diese Sicht ist immer schon von einem Erkenntnisinteresse getrieben, das sich auf einen Teil der betrachteten Phänomene beschränkt und andere vernachlässigt. Und so ist eben auch keine Person und keine künstlerische Arbeit erschöpfend zu erklären, indem man sie als Teil eines Systems namens Figurentheater beschreibt. Man kann dadurch aber herausfinden, wie es kommt, dass etwas als Figurentheater angesehen wird und wie sich die damit verbundenen Ansprüche weiterentwickeln. Obendrein lassen sich dadurch auch die Institutionen des Figurentheaters in ihren verschiedenen Rollen verstehen, genauso wie die Substrukturen innerhalb des Figurentheaters, die sich selbst wieder als Systeme konstituieren und differenzieren.

Wie geht eine systemtheoretische Analyse vor sich? Es gibt tausenderlei unterschiedliche Ansätze, die teils nicht über Plattitüden hinausreichen und teils so kompliziert sind, dass diejenige, die sie erstellt haben, selbst nicht mehr verstehen, um was es geht. Manche Ansätze schaffen sogar beides auf einmal. Im ersten Schritt kann es sinnvoll sein, Akteure, Ressourcen und Aktivitäten aufzuschreiben, was geschickter Weise als ARA-Ansatz bezeichnet wird (Lenney und Eason, 2009). Hier soll es den Lesenden überlassen sein, dies für sich selbst durchzuführen. Am Ende werden sicher Theaterbetreibende, gestaltende und darstellende Künstlerinnen und Künstler in verschiedenen Rollen als Akteure sichtbar werden, aber auch Interessenvertretungen, besondere Personen oder Gruppierungen im Publikum, genauso wie Geldgeber. Bei ihren Aktivitäten ist es für eine Systemanalyse wichtig, die Beziehungen zwischen den Beteiligten qualitativ und quantitativ herauszuarbeiten, um zu beschreiben wer mit wem, über was und wie oft interagiert. Dazu gibt es mittlerweile auch viele technische Hilfsmittel, mit denen Diskurse automatisch analysiert und Netzwerke sichtbar gemacht werden können.

Bleiben noch die Ressourcen. Fasst man den Begriff weit, so lässt sich darunter alles erfassen, was irgendwie gebraucht wird, um Figurentheater zu betreiben. Wichtig ist dieser Aspekt, weil er am einfachsten Einblicke in die Offenheit des Figurentheaters als System bietet. So kann man über die Jahre hinweg anhand der Ressourcen gut verfolgen, wie sich neue Arten von Spielstätten durchsetzen, wie technische Gerätschaften hinzukommen oder verschwinden, wie Texte sich verändern, aber natürlich auch, wie sich die Geldquellen im Verhältnis zueinander entwickeln. Daran lässt sich auch erkennen, welche Ressourcen mit Akteuren außerhalb des Systems geteilt werden und welche spezifisch für das Figurentheater sind. Damit ergeben sich erste Hinweise darauf, wie sich das Figurentheater als Genre von anderen differenziert. Die Texte sind es meist nicht. Bei den Gerätschaften gibt es natürlich die traditionellen Varianten der Figur, die Handpuppe, die Marionette, die Figuren des Schattenspiels und ihre Hybride. Bei anderen Varianten der Figur, vom Stofftier bis zum Roboter, gibt es kaum Differenzierungsmerkmale. Hier bewegt sich das Figurentheater an der Schnittstelle zu anderen Genres, was sich auch in den Akteuren abbildet, die dann oft auch spezielles Wissen aus technischer Perspektive erwerben müssen, welches wiederum als Ressource diskutiert werden könnte. Die Spielstätten sind natürlich der nächste differenzierende Faktor des Figurentheaters, im Verbund mit den Akteuren, die sie betreiben, finanzieren, besprechen oder anderweitig mit ihnen zu tun haben. Interessant ist dabei auch der internationale Vergleich, der die Aufmerksamkeit auf die Verschiedenheit von Materialien, Formaten, Kompetenzen und Geldquellen lenkt, die in den jeweiligen Kulturen oder Ländern im Mittelpunkt stehen. Überlieferte Traditionen werden dabei genauso wie öffentliche und private Förderstrukturen als Einflussgrößen sichtbar, um die herum sich Figurentheater als System organisiert.

Der große Vorteil einer systemtheoretischen Analyse anhand von Akteuren, Ressourcen und Aktivitäten besteht darin, dass er keine tiefere Auseinandersetzung mit künstlerischen Ansprüchen und Interpretationsmustern des Figurentheaters erfordert. Jeder dahergelaufene Wirtschaftswissenschaftler (räusper) kann eine solche Analyse durchführen, wenn er nur etwas Einsicht in die alltägliche Praxis der Beteiligten gewinnt. Hilfreich ist die Analyse auch bei dem Versuch, unterschiedliche Variationen der Differenzierung des Figurentheaters von anderen Systemstrukturen zu vergleichen. In vielen Fällen lassen sie sich an besonderen Ressourcen festmachen: den Formen von Figuren, die verwendet werden, den Spielstätten, den Kompetenzen oder Wissensbeständen, von denen die Beteiligten ausgehen. Wie erfolgreich eine Differenzierung ist, ergibt sich systemtheoretisch aus der Analyse der Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Systems. Hier sollten sich klare Unterschiede ergeben in der Häufigkeit und Art der Interaktion. So lässt sich dann eben doch erkennen, dass die Psychotherapie, das Ingenieurswesen und das Figurentheater im internen Austausch durch andere Aktivitäten geprägt sind als Zusammenspiel miteinander. Mögen sie auch alle irgendwie mit Puppen arbeiten, so konstituieren sie sich doch ganz anders. Als Genre gehören sie schwerlich zusammen. Bei den Unterschieden zwischen Figurentheater für Erwachsene und Kinder mit Handpuppen, Marionetten oder anderem Gerät werden hingegen Strukturen sichtbar. Zwar gibt es hier Subsysteme innerhalb des Figurentheaters, aber sie interagieren doch viel stärker miteinander und greifen mehr auf gemeinsame Ressourcen zurück, als dies im Austausch mit anderen Systemen zutrifft.

An dieser Stelle wären noch einige Worte zu sagen über das Verhältnis des Genres zu seiner Umwelt und der Subgenres zueinander. Es gibt Genres, die sich durch höchste Ansprüche im Umgang mit einer künstlerischen Ausdrucksform konstituieren. Ballett ist in dieser Hinsicht beispielsweise einzigartig, erfordert eine Hingabe, einen Zeitaufwand und eine Leidensbereitschaft, die es allein schon aus diesem Grund von allem anderen abhebt. Andere Genres wie die Rockmusik müssen sich hingegen mit viel Aufwand als Gegenkultur etablieren und entwickeln ihre Identität zum großen Teil aus der Ablehnung der Massenkultur oder deren Ablehnung des Genres, die durch provozierende Praktiken gefördert wird. Wo steht das Figurentheater in dieser Hinsicht? Eine befriedigende Antwort ließe sich vermutlich nur aufgrund einer stärkeren inhaltlichen Auseinandersetzung geben. Sie käme für unterschiedliche Subgenres sicherlich auch zu unterschiedlichen Antworten. Vielleicht lässt sich aber auch überhaupt keine klare Antwort geben, so wie man Elvis-Imitatoren sowohl durch ihre Könnerschaft als auch durch die Ablehnung der Massenkultur charakterisieren kann. Erinnern wir uns: Systeme sind nur Sichten auf die Welt. Sie können die menschliche Lebenswelt niemals vollumfänglich erfassen.

 

Ein paar Quellen

Checkland, P. (1981). Systems Thinking, Systems Practice. Chichester:Wiley.

Fritzsche, A. (1998). Die Welten der Science Fiction: 15 Annäherungen an das erfolgreichste Genre unserer Zeit. Meitingen: Corian.

Frow, J. (2015). Genre. New York: Routledge.

Lenney, P. und Easton, G. (2009). Actors, resources, activities and commitments. Industrial Marketing Management, 38(5), 553-561.

0 Kommentare

Neuer Kommentar