Theater

40 Jahre Figurentheater in Stuttgart: ein doppeltes Jubiläum

Von Elisabeth Maier

Eine beispiellose Erfolgsgeschichte: Seit 40 Jahren sind das Figurentheaterzentrum Stuttgart (FITZ) und der Studiengang Figurentheater an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HMDK) Stuttgart unzertrennliche Partner, die gemeinsam die Grenzen der Kunstform ausloten.

Faltenreiche Charakterköpfe aus Pappmaché stehen in den Vitrinen des Studiengangs Figurentheater an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in der Urbanstraße in Stuttgart. Die kleinen Kunstwerke haben Studierende in den Werkstätten geschaffen. Solche Handwerkskunst ist auch heute aus der Ausbildung nicht wegzudenken. Sie erinnern an die Zeit, als der weltberühmte Puppenspieler Albrecht Roser für die Schaffung eines neuen Studiengangs für Puppen- und Figurentheater kämpfte. 1983 wurde dieser Traum in der Landeshauptstadt Wirklichkeit. Mit einem Diskursformat beim Festival Imaginale in den Räumen der Akademie anlässlich des 40-jährigen Bestehens erinnerten die Professorin Stephanie Rinke und ihr Team nicht nur an die Entwicklung des Studiengangs und an die Anfänge. Junge Künstler:innen der Szene zeigten, wie digitale Technik und Videokunst das Figuren- und Materialtheater geprägt haben.

Blick in die Vitrinen des Studiengangs Figurentheater an der HMDK Stuttgart

Vor elf Jahren ist der Hauptstudiengang an der HMDK in Stuttgart von „Materialtraining“ in „Animation“ umbenannt worden. Einer der Vordenker dieser experimentellen Kunst ist der Stuttgarter Professor Florian Feisel, der zusammen mit Dr. Laurette Burgholzer und Jonas Klinkenberg im Rahmen des Festivals „Imaginale 2023“ eine Lecture-Performance mit dem Titel „Die Kunst, lebendig zu machen“ konzipierte, die sich mit eben diesem Begriff auseinandersetzte. Aus Krankheitsgründen fand die Umsetzung allerdings ohne ihn statt, doch Burgholzer und Klinkenberg wussten das Publikum in der fünfstündigen Veranstaltung für lebhaften Diskussionen über den Unterschied von Animation und Manipulation zu gewinnen.

Wie spannend sich digitale Technik und das Figuren- und Materialtheater ergänzen, ließ bei dem überregionalen Imaginale-Festival gerade die deutsch-französische Inszenierung „Resonancias“ von Rafi Martin und der Regisseurin Julika Mayer spüren. Inspiriert von der chilenischen Meteorologin Millarca Valenzuela, die über Meteoriten forscht, loteten sie den Gegensatz von Natur und Kultur aus.  Mit einem Klumpen Salz führt der Figurenspieler das Publikum in die Welt der Salzwüste von Atacama in Chile. Im Off sind die hitzigen Gespräche Einheimischer zu hören, die in der brütend heißen Sonne für ihren Lebensunterhalt schuften. In schroffe Klangkluften reißt die Sound-Designerin Lundja Medjoub das Publikum hinein. Dann rieseln feine Salzkörner von der Decke. Die Botschaft der Kunstschaffenden sitzt: An Ende erobert sich die Natur ihr Terrain zurück.

Das Leitungsteam des Stuttgarter Studiengangs. v.l.n.r.: Stephanie Rinke, Florian Feisel, Julika Mayer (c) HG Clemens

„Uns ist es wichtig, die Studierenden mit neuen technischen Möglichkeiten vertraut zu machen“, sagt Stephanie Rinke, die Leiterin des Stuttgarter Studiengangs. Sie selbst hat bis 1997 selbst an der dortigen Hochschule studiert. Die HMDK sei eng mit dem Figurentheaterzentrum Stuttgart (FITZ) verbunden. Kollektive von Studierenden, die am Rande des Hochschulbetriebs entstehen, finden in der kleinen Bühne unter dem Stuttgarter Tagblatt-Turm ein Forum. „Bei Festivals wie der Imaginale vernetzen wir uns mit Figurenspieler:innen aus aller Welt.“ Wie fruchtbar der Austausch auf allen Ebenen klappt, zeigten die Studierenden schon bei der Organisation des Festivals. Sie kochten Linsen- und Käse-Lauchsuppe für die Zuschauer:innen, die an den Festivaltagen meist mehrere Produktionen an unterschiedlichen Spielorten erlebten.

Wie stellte Albrecht Roser vor 40 Jahren die Weichen für den Studiengang und für das Figurentheater-Zentrum FITZ? „Unter den Stuttgarter Figurenspieler:innen, die die Gründung einer festen Spielstätte für Figurentheater in der Stadt vorangetrieben hatten, waren auch diejenigen, die sich für die Einrichtung einer professionellen Ausbildung stark gemacht haben – allen voran der weltbekannte Marionettenspieler Albrecht Roser“, sagt Katja Spiess, die das FITZ heute leitet. Er selbst hatte sich durch die klassischen Holzmarionetten „Gustav und sein Ensemble“ 1983 längst einen großen Namen gemacht. Die strickende Oma mit den roten Backen und der gutmütige Clown haben Generationen begeistert. Roser habe schon früh erkannt, dass die kulturpolitische Verankerung und Professionalisierung des Genres in Westdeutschland nur dann gelingen kann, wenn der professionelle Nachwuchs systematisch ausgebildet wird. Da war das Puppenspiel in der ehemaligen DDR bereits weiter. Die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ bildete bereits seit 1971 Puppenspieler:innen aus. Dass der Studiengang ohne eine feste Spielstätte keine Chance haben würde, sich in der Stadtgesellschaft zu etablieren, war dem Künstler klar.

Katja Spieß (c) Max Kovalenko

„Seither haben sich das FITZ und der Studiengang als einander ergänzende und kooperierende Institutionen stetig weiterentwickelt“, ist Katja Spiess überzeugt. Die Chefin des FITZ denkt das Konzept kontinuierlich weiter. Wie befruchten das Theater und der Studiengang einander? Dass am Haus ein kontinuierlicher Abendspielplan möglich wurde, ist aus ihrer Sicht dem Studiengang zu verdanken, dessen Absolvent:innen jedes Jahr mit interessanten Produktionen für Erwachsene überzeugten. „Umgekehrt unterrichten am Studiengang immer wieder Dozent:innen aus dem In- und Ausland, die über das FITZ oder über das Festival ihren Weg nach Stuttgart gefunden haben.“

Vielfältig sind die Anknüpfungspunkte und Kooperationen des FITZ und der Hochschule. „Wir arbeiten in vielfältiger Weise zusammen und haben auch einige feste Kooperationsformate entwickelt“, sagt Katja Spiess. Zu Beginn jeder Spielzeit gibt es nach den Worten der Theaterchefin die sogenannte „Bachelorwoche“. In diesem Rahmen präsentieren die Absolvent:innen des FITZ ihre Abschlussarbeiten. „Die jungen Künstler:innen bekommen einen professionellen Rahmen und werden technisch, organisatorisch und in der Außenkommunikation vom Theater unterstützt.“ So hat das Publikum die Möglichkeit, die Künstler:innen mit ihren ersten Arbeiten kennenzulernen. „Dass sich unsere Studierenden erproben und experimentelle Formate entwickeln dürfen“, sieht auch die Professorin Stephanie Rinke als eine große Chance an. Ebenfalls im Herbst gibt es am FITZ die sogenannten KuFos – das sind Kurzformate der Studierenden im dritten Jahr.

"Der Türhüter" von Lukas Schneider bei den KuFos 2021 (c) Pascal Vogel

Im Rahmen des Festivalformats Imaginale haben das Theater und die Hochschule 2016 mit „Zerstörung“ eine deutsch-französische Gemeinschaftsproduktion realisiert, die erst in Stuttgart und dann auf mehreren internationalen Festivals zu sehen war. Beide Partner organisieren auch immer wieder gemeinsame Workshops. Dieses Jahr waren Künstler:innen der Berliner Schaubude zu Gast.

Anlässlich des 40-jährigen Bestehens möchten die beiden Partner das Figurentheater noch stärker in die Öffentlichkeit tragen. Vom 30.6. bis 23.07.2023 planen sie unter dem Titel „Die animierte Stadt #2“ ein großes Gemeinschaftsprojekt im öffentlichen Raum, an dem die Studierenden, aber auch viele Absolvent:innen des Studiengangs Figurentheater beteiligt sind. Mit Performances, szenischen Interventionen und Walk-Acts auf zahlreichen Plätzen der Stadt möchten das FITZ und die Hochschule die Vielfalt des jungen Figurentheaters zeigen. Alle Angebote sind kostenlos. „Das ist unser Geschenk an die Stadt“, sagt Katja Spiess. Für die Theaterchefin trägt das neugierige, offene Stuttgarter Publikum viel zum Erfolg des Figurentheaters bei.

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