Puppentheater Magdeburg: "100 Sekunden"
19. Oktober 2023
Mit Spannung wurde die erste Premiere unter der neuen Intendanz von Sabine Schramm erwartet. Sie ging zum Spielzeitauftakt neue Wege – im wahrsten Sinne: Das Publikum wurde über den Hintereingang ins Gebäude geführt, wo die Intendantin selbst im Prolog den Abend einleitete. Es wurden ungewöhnliche (Ein)Blicke geboten, auch in die letzten 100 Sekunden vor dem Auftritt des Ensembles. 100 Sekunden, die über den kommenden Verlauf entscheiden. Die auch der Anfang vom Ende sein könnten. Die über Gedeih und Verderb entscheiden – nicht nur vor einer Premiere. Was würden wir tun, wenn wir nur noch 100 Sekunden zu leben hätten?
"100 Sekunden", Sabine Schramm beim Prolog © Viktoria Kühne
Inspiration für diese Inszenierung bot die Doomsday-Clock, die Weltuntergangs-Uhr, die von einer Gruppe Atomwissenschaftler um Albert Einstein 1947 entwickelt wurde und vor Katastrophen warnen soll. Damals gestellt auf sieben Minuten vor zwölf, wurde sie seitdem 26 Mal bewegt, was zeigen soll, wie sich die Menschheit der zerstörerischen Katastrophe nähert. Was tun wir, wenn diese Uhr 100 Sekunden vor Mitternacht steht? Zu dieser Frage hat das Puppentheater vier Stückaufträge an Autor*innen vergeben, die in der Regie von Alvaro Schoeck zu einer Inszenierung zusammengefasst wurden. Somit kamen in Magdeburg gleich vier Uraufführungen auf die Bühne bzw. Bühnen. Dafür wurde der Publikumsraum, in den die Besucher*innen nach dem Prolog geführt wurden, umgestaltet. Anstelle der üblichen Bestuhlung boten 100 extra angefertigte Kartonquader Sitzgelegenheit. Nicht wirklich bequem (aber das ist die Zeit auch nicht, wenn das Ende naht), jedoch zweckdienlich: So konnten sich die Zuschauenden in alle Richtungen orientieren, um das Geschehen auf der 360-Grad-Bühne zu verfolgen. Alle Außenbereiche wurden zur Spielfläche. Die Besucher*innen befanden sich inhaltlich ebenso wie durch die Sitzordnung im Mittelpunkt.
Den Start gestaltete Lennart Morgenstern im Zwiegespräch mit einer lebensgroßen Klappmaulpuppe. „Du hast nur noch 100 Sekunden zu leben – was tust du?“, fragt er und erhält zur Antwort: „Ich warte auf Bruce Willis, der rettet immer alle.“ Doch „Bruce Willis kommt nicht“ (so auch der Titel des Stücks/von Andreas Jungwirth). Was ist die Alternative? Die Frist „reicht ja nicht einmal, um Kaffee zu machen, geschweige ihn zu trinken“, sagt die Puppenfigur und fragt dann: Oder beginnen die 100 Sekunden erst später und es bleibt Zeit, die Eltern zu besuchen? Es entspinnt sich ein Dialog zwischen Nachdenklichkeit und Amüsement. Doch immer, wenn es zu unterhaltsam zu werden scheint, erklingt die Zwischenfrage: Wie lange habe ich noch? Und was passiert dann?
"100 Sekunden", Anna Wiesemeier in „Verschmelzung“© Viktoria Kühne
Einer möglichen Antwort auf diese Frage widmet sich das darauffolgende Stück „Verschmelzung“ von Christian Mitko Hoffmann. Anna Wiesemeier und Linda Mattern umspielen eine kleine Stabpuppe, die sie wie liebvolle Eltern beschützen wollen. Der Winzling ist in Erdplanetenblau gehüllt. Ringsum nehmen die Lichter zu wie Funken, die innerhalb von Sekunden zum Großbrand werden können. Durch Videoprojektionen an den Seitenwänden werden diese sicht- und damit auch fast fühlbar gemacht. Wie weit ist der Funkenflug noch? Geht das Haus in Flammen auf? Oder gibt es erlösenden Regen?
„Ersatzlos gestrichen“ ist zwar nicht der Regen, doch alles andere – im gleichnamigen Stück von Ulrich Hub. Wenn die Menschheit verschwunden ist, übernehmen die Tiere. Mit Puppen aus Plüsch und minimalistischen Utensilien wie Schlappohren oder Polizeimütze werden sie zu den Akteuren. Affe (Leonhard Schubert), Gans (Kaspar Weith), Fuchs (Luisa Grüning) und Hund (Freda Winter) philosophieren über das Leben, die Menschen und ihr Schicksal. Zwischen Ängsten und Hoffnung, Angst und Liebe tun sich völlig neue Perspektiven auf. Gespickt mit Wortwitz und solcher Darstellung, dass man die menschlichen Gestalten vergisst und mit den Tieren mitfiebert, zittert und lacht.
"100 Sekunden", Richard Barborka und Florian Kräuter in „Schrödingers Familie“ © Viktoria Kühne
Währenddessen schleicht Richard Barborka fast unbemerkt hinter das Publikum, nimmt Platz und übernimmt schließlich das Spiel. Fast schlafwandlerisch streichelt er einen (letzten?) Stein. 100 Sekunden … Wie viel Zeit ist das? Er lässt den Countdown vom Publikum runterzählen, und der vierte Teil des Abends beginnt: „Schrödingers Familie“ (vom Duo Sokola//Spreter) ist eine Videoinstallation mit weltraumgleichen Darstellungen auf einer Leinwand. Ein Spiel mit Licht und Schatten, das seinen Ursprung im Nebenraum hat. Durch einen fast durchsichtigen Vorhang ist zu sehen, wie Richard Barborka und Florian Kräuter Figuren vor einem Projektor bewegen. Deren Spiegelung wird auf die gegenüberliegende Leinwand projiziert. Planeten und Figuren drehen sich wie auf einem Karussell, verändern ihre Positionen und den Verlauf. Menschen tauchen auf, schweben durch das Universum. Können und werden sie in das Spiel eingreifen?
100 Sekunden. Eine beeindruckende Inszenierung, die nicht nur hervorragend und kurzweilig umgesetzt wurde, die auch zum Nachdenken anregt. Zum Finale wurden die Besucher*innen an einer langen Tischtafel eingeladen, sich darüber auszutauschen, woraus sich eine recht lautstarke Gesprächsatmosphäre entwickelte. Was würden Sie tun, wenn Sie nur noch 100 Sekunden zu leben hätten?
Puppentheater Magdeburg: „100 Sekunden“
von Christian Mitko Hoffmann, Ulrich Hub, Andreas Jungwirth, Sokola//Spreter
Idee, Konzeption, Bühne: Sabine Schramm | Regie, Bühne: Alvaro Schoeck | Video: Richard Barborka, Hannes Hesse, Florian Kräuter | Kostüm: Juliane Kühn | Dramaturgie: Miriam Locker, Sofie Neu, Petra Szemacha | Es spielt das gesamte Ensemble: Richard Barborka, Luisa Grüning, Florian Kräuter, Linda Mattern, Lennart Morgenstern, Sabine Schramm, Leonhard Schubert, Kaspar Weith, Anna Wiesemeier, Freda Winter
Uraufführung / Premiere: 6. Oktober 2023
für Menschen ab 16 Jahren
Hier geht's zum Stück und weiteren Spielterminen auf der Website vom Puppentheater Magdeburg.