Die aktuelle Kritik

Schaubude Berlin: „#mysharedspace"

von Tom Mustroph

Raumerlebnisse mit Klein- und Großfiguren Die immersive Rauminstallation #mysharedspace an der Schaubude kippt Blickachsen und handelt Beziehungsgefüge neu aus.

Eine Wohnung, gerade nicht bewohnt, aber doch bevölkert, das ist das Setting von #mysharedspace. Das Projekt, seit fünf Jahren schon von der Puppenspielerin, Puppenbauerin und bildenden Künstlerin Larissa Jenne im Herzen getragen, dreht gleich mehrere Theatergewohnheiten um. Manche Umkehrungen haben, natürlich, mit Corona zu tun. Die meisten sind aber aus der Logik des Projekt selbst heraus erwachsen.

Die Verhältnisse von innen und außen sind zum Beispiel zum Tanzen gebracht. Der ganze Raum ist Bühne. Und die Bühne ist die ganze umgebende Welt. Dieser Welteindruck stellt sich sofort her, wenn man über den langen Flur am Hintereingang der Schaubude, vorbei an der Treppe, die hoch zu einer Arztpraxis führt, in diese Wohnung, den shared space eben, gelangt.

Einen Brief der abwesenden Bewohnerin hat man noch in die Hand gedrückt bekommen, als eine Einladung, die Wohnung zu benutzen, sich in der Küche aufzuhalten, in die Badewanne zu steigen, ins Bett auch, und sich selbstverständlich aus dem Kühlschrank zu bedienen.

Man betritt die Wohnung allein, das ist coronabedingt. Man betritt sie mit Maske, so lautet die Vorschrift. Kaum ist man drin, beginnt die Wohnung zu leben. Erst in der eigenen Vorstellung. Leer getrunkene Flaschen stehen herum, Rudimente von Zechereien. Waren es kollektive Besäufnisse oder handelt es sich um die traurigen Zeugen einsamen Trinkens? Befreite sich das Gemüt dabei oder wurde es eingenebelt?

Auf den Tischen und Regalbrettern sowie in den Schränken fallen verschlossene Gläser auf. Rätselhafte Dinge enthalten sie: Steine, Knöpfe, Geldmünzen. Manches mutet wie Knöchelchen an, anderes wie vom Leben verlassene Falter. All das sind Erinnerungsspeicher. Kaum hat man angefangen, sich mit ihnen zu beschäftigen, hat versucht, ihnen ihre Geschichten zu entlocken, da öffnet sich eine Schranktür. Ein Wesen mit Kopf und vielen Gliedmaßen haust in dieser Miniwelt. Es lockt in sie hinein. Die Miniwelt wird zur Bühne, die eine Bühne ist innerhalb der großen Bühne, die die Wohnung darstellt. Im Spiel erweitert sich aber auch diese Miniaturbühne zu einer ganzen Welt. Man vermutet diese Welt mal auf einem fernen Planeten. Dann aber wieder wirkt sie seltsam vertraut. In regelrechte Raumparadoxien taucht man ein bei #mysharedspace, in Räume, die sich in Räumen befinden, die sich darin aber ausdehnen, manchmal zusammenziehen, mal kleiner wirken als der eigene Körper, ihn dann wieder umschließen, ihn sogar durchdringen.

Die einköpfige, vielgliedrige Figur, gespielt mit dem Kopf auf einer Fingerkuppe, den anderen Fingern als Glieder, zaubert Erinnerungen hervor.

Einzelne Gläser werden geöffnet und Geschichten freigelassen. Geschichten werden auch der Haut entlockt, durch Berührung, Berührung zwischen fremden Wesen. Wie ein Tabubruch wirkt dies: Berührung in Coronazeiten, in denen sich die individuelle Hygieneschutzzone doch ausgedehnt hat auf den anderthalb Meter Luftradius, den man jetzt mit sich zu schleppen hat wie Übergewichtige ihre Fettpolster. Für kurze Momente ist diese Abstandsschicht hier durchdrungen. Hygienedisclaimer: Die Spielerin trägt Handschuhe, nach jedem Durchlauf werden die Oberflächen brav desinfiziert.

Die Näheerlebnisse setzen sich in anderen Ecken und Winkeln der Wohnung fort. Ein indischer Sexualforscher, erfahren in Techniken, die das Kamasutra beschreibt, springt als weitere Kleinfigur in einen schwarzen Kasten und startet ganz analog einen Onlinechat über Berührungen und Massagen, Öle und Energieflüsse.

Ins Badezimmer gleich daneben, und dort in die Badewanne, wird man durch akustisches Geplätscher gezogen. Es handelt sich um Wassergeräusche, aber auch um verbale Einladungen, sich hinzugeben sowie Berichte des sich Hingegeben Habens.

Im nächsten Zimmer dann liegt auf einem weißen Bett ein ebenso weißer, melancholisch wirkender Krake. Die Großfigur, in ihrem Inneren erahnt man die Spielerin, hantiert versonnen mit ihren Tentakeln. Geräusche dringen aus den Körperöffnungen des Kraken. Ein Spiel beginnt, um Grenzen auszuloten: Welcher Druck wird wie erwidert, welche Berührung wird erlaubt, welche abgelehnt, welche gesteigert oder gar herausgefordert?

„Was in #mysharedspace geschieht, bleibt in #mysharedspace", lautete die Ansage, bevor man in die Wohnung gelassen wurde. Und so bleibt es jeder Person, die diese von der Mieterin offenbar verlassene, aber von vielen Wesen bevölkerte Wohnung betritt, selbst überlassen, wie weit das Spiel geht, welche Formen von Sinnlichkeit und Erotik zugelassen werden und wovor sie oder die Krakenfigur zurückschrecken.

#mysharedspace ist die in Bühnenform gegossene Erfahrung von Trampen und Couchsurfing, vom ersten Treffen nach dem Online Date, vom Tag nach dem Rave, von der Zwei- oder Mehrsamkeit mit gerade noch Unbekannten, die aber ganz schnell vertraut werden, weil sie mit den eigenen Phantasien, den eigenen Lüsten, den eigenen Ängsten auch, verschmelzen. #mysharedspace ist nicht Gucken auf einen Kasten, nicht Betrachten aus sicherer Distanz. Es ist vielmehr ein Eintauchen in einen Raum, ein Erkunden und Ertasten, ein Universum von Begegnungen, das sich mal ausdehnt und mal zusammenzieht, als sei dieser Raum selbst ein Organismus, ein Tier vielleicht, dessen Sprache man während des etwa 45-minütigen Parcours zu lernen versucht.

Das Projekt wäre auch ohne die lebensverändernden Umstände des Lockdowns wohl eine interessante immersive Arbeit geworden. Weil das Begegnen und Berühren jetzt aber auf den Index geraten sind, gewinnt die Arbeit zusätzliches Gewicht. Welche Befriedigung löst Online-Dating aus? Welche systemischen Mängel hat es? Wie sieht die neue Risikobilanz analoger Begegnungen aus? #mysharedspace ist auch ein Testlabor für solche Fragen.

Gestellt und mit Antwortanregungen versehen wird es durch zwei Klein- und eine Großfigur (Spielerinnen: Larissa Jenne, Christina Schelhas, Salomé Klein, Emilia Giertler), mehrere gestaltete Räume (Bühne und Kostum: Jenne & Klein), integrierte Audio- und Videoinstallationen (Alexander Hector) und durch die Räume wehende Klänge (Ezra Azmon, DJn MIMI LOVE).

 

Premiere: Dienstag, 18.08.2020, 15.30 Uhr. Bis 22.8., 14.00 bis 21.40 Uhr, Eintritt für eine Person ca. alle 30 Minuten, 15, erm. 10 Euro.

 

Fotos oben: Larissa Jenne, Dia (Foto 2): Annika Hellmuth

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