Young Writers

Puppentheater ist Schizophrenie. Ein Gespräch mit der Puppenspielerin Karla Wintermann

Über die Ausbildung zur Puppenspieler*in in der DDR, die Vorteile von Ensemblearbeit und die Tätigkeit als freischaffende Puppenspielerin.

Ein Text von A.-L. Binder.

„Puppentheater ist Schizophrenie“ erklärt Frau Wintermann. Sie spricht von dem Spagat zwischen Vordenken und Sprechen im Jetzt, der vor allem das Marionettenspiel charakterisiert. Die Spieltechnik sei dabei immer an eine zukunftsgerichtete Denkweise gebunden, da eine sichtbare Bewegung der Figur einen für den Zuschauer unsichtbaren Ursprung in der Vergangenheit hat. Wintermann sagt, beim Puppenspiel sei die Technik losgelöst vom Gedanken.

Die Ausbildung

In den Jahren zwischen 1973 und 1976 absolviert Karla Wintermann das Studium im Fach Puppenspiel an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin. Das Puppenspiel ist seit ihrer Kindheit eine Berufung für die 1954 in Weinböhla geborene Künstlerin, deren Spielfreude sich zunächst in Form von Sandmann- Inszenierungen auf der Stuhllehne Raum verschafft. Als Schülerin ist Wintermann in zahlreiche Projekte involviert, spielt Kabarett, tritt als Ballprinzessin auf, singt im Chor und hat erste Auftritte als Statistin am Theater. Einen Ort für die bunte Seite des Lebens entdeckt sie für sich auf der Theaterbühne und beim Karneval.

Gemeinsam mit der Dresdner Dramaturgin Susanne Böhmel bereitet Wintermann sich nach dem Abitur auf die Aufnahmeprüfung in Berlin vor, arbeitet dazu an Handpuppen-Etüden und baut erste eigene Figuren.        
 
Das Studium an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin-Schöneweide ist in den 70er Jahren in drei jeweils einjährige Abschnitte gegliedert, der Fokus liegt stark auf der Vermittlung theoretischer Inhalte. Der Unterricht in Ästhetik, politischer Ökonomie und Marxismus-Leninismus erfolgt gemeinsam mit den Student*innen der Fachrichtung Schauspiel. Hinzu kommen die Fächer Darstellendes Spiel, Geschichte und Theorie des Puppentheaters, Sprecherziehung, Musik und Bewegung. Besonders auf Sprecherziehung und Bewegungsunterricht wird bei der Erarbeitung praktischer Kompetenzen viel Wert gelegt, der Schauspielunterricht ist Voraussetzung für das Puppenspiel. Im Bereich Figurentheater liegt der Fokus im ersten Studienjahr auf der Arbeit mit Handpuppen. Im zweiten Jahr wird die Stabpuppe eingeführt, die sich laut Wintermann durch das Repertoire an großen, ausladenden Gesten gut zur Umsetzung poetischer Texte eignet. Im letzten Studienjahr kommt die Arbeit mit der Marionette hinzu. Da während des Studiums kein Praktikum im Bereich Schauspiel vorgesehen ist, sammelt Wintermann erste Arbeitserfahrung im Bereich Animationsfilm am Trickfilmstudio Dresden.

Objekt- oder Materialtheater spielen während des Studiums in der DDR keine Rolle. Inspiration für das Puppentheater bieten vor allem die Inszenierungen tschechischer und polnischer Häuser. Besonders die Puppentheater in Wrocław (Breslau) und Jelenia Góra (Hirschberg) haben Vorbildwirkung.

Die Ensemblearbeit bildet an der Schauspielschule „Ernst Busch“ einen wichtigen Ausbildungsschwerpunkt. So wird zum Abschluss jedes Studienjahres eine gemeinsame Inszenierung erarbeitet, in die alle angehenden Puppenspieler*innen eingebunden sind. Bei der Auswahl von Stücken lässt das sozialistische Regime den Künstler*innen weitestgehend freie Hand.

 

Ensemblearbeit in Dresden

Nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums mit dem Diplom, wird Wintermann im Jahr 1976 als jüngste Spielerin in das feste Ensemble des Puppentheaters Dresden aufgenommen. Gemeinsam mit ihrem künstlerischen Vorbild Peter Beckert und während der Intendanz von Jochen Heilmann, der bei einem Intendantenvorspiel in Berlin auf Karla Wintermann aufmerksam wird, wirkt sie in zahlreichen Inszenierungen wie beispielsweise „Die Prinzessin und das Echo“, „Kleine Frau was nun“ und „Romeo und Julia“ mit. Weitere Ensemblemitglieder, mit denen sie von 1976 bis 1980 zusammenarbeitet, sind unter anderem Kurt Heinzig, Lieselotte Klemm, Karin Kramer und Eva-Maria Nitzsky. Wintermann fällt die Aufgabe zu, ihren Mitspieler*innen in Dresden das Marionettenspiel nahezubringen, welches am Puppentheater Dresden zuvor nicht praktiziert wird. Das Ensemblespiel empfindet Wintermann als große Bereicherung. „Es setzt vor allem Improvisationsfähigkeit voraus“ erklärt sie. Auch der Dialog mit dem Publikum rücke durch das gemeinsame Spiel auf besondere Weise in den Vordergrund. Da bei der Adressierung des Publikums eine kleine Verzögerung im von Wintermann so betitelten Rhythmus der Figur entsteht, werden Puppenspieler*innen bei der gemeinsamen Arbeit darin geschult, ein besonders starkes Sendebewusstsein zu entwickeln. Durch diese reflektierte Haltung können Intensität und Spannung des Spiels aktiv beeinflusst werden. Die Figur als Mittel von Verfremdung und Überhöhung erhält beim Ensemblespiel einen neuen Stellenwert, der von den Dresdner Puppenspeler*innen durchaus hinterfragt wird. „Wir haben uns die Frage gestellt, ab wann brauche ich die Puppe?“ erläutert Wintermann. Bei der Arbeit im Ensemble entsteht zudem häufig eine gemeinsame Haltung, die die Spielweise der einzelnen Ensemblemitglieder sehr bereichern kann. 

Das Puppentheater Dresden genießt in der DDR großes Ansehen. Auch das Puppentheater Erfurt sowie die freie Gruppe „Zinnober“, sind sehr bekannt.

Die Puppentheater in der DDR sind materiell gut ausgestattet. Den Werkstätten steht eine Fülle von Materialien zum Figuren- und Kulissenbau zur Verfügung. Puppen, die für eine bestimmte Inszenierung gebaut werden, werden nie im Rahmen einer anderen Inszenierung wiederverwendet. Es sind alle strukturellen Voraussetzungen gegeben, um entsprechend der Ambitionen der DDR, den „verlängerten Arm der Volks-bildung“1 als kulturpolitisches Instrument einzusetzen. Dennoch betont Wintermann, in ihrer Zeit am Puppentheater Dresden keine politische Beeinflussung des Theaterbetriebs wahrgenommen zu haben. Sie ergänzt, dass freie Gruppen und Solokünstler allerdings durchaus davon betroffen sind. In der DDR gibt es eine staatliche Kommission, die für die Klassifizierung von Puppenspieler*innen zuständig ist, sie auf ihre politische Ausrichtung hin überprüft und daraufhin ihr Honorar festlegt. Bei der Überprüfung durch die staatliche Kommission steht die Sicherstellung der Qualität von Aufführungen im Vordergrund. Die Auswahl von Stücken erfolgt Wintermann zu Folge frei von politischer Beeinflussung und richtet sich eher nach wirtschaftlichen Kriterien- läuft eine Inszenierung an einem anderen Theater gut, wird der Stoff übernommen. Trotzdem werden vor allem Märchenstoffe aus der russischen Literatur bearbeitet, über die teilweise auch systemkritisch deutbarer Inhalt transportiert wird. In erster Linie stellen Kinder das adressierte Publikum dar. „Das Gute siegt immer.“, sagt Wintermann und drückt damit aus, worin für sie der besondere Reiz von Märcheninszenierungen liegt.

Während die Ensemblemitglieder auch am Puppentheater Dresden zunächst noch in schwarzen Samt gekleidet und mit Gaze-Masken vor dem Gesicht auftreten, setzt sich ab den 80er Jahren die Offene Spielweise durch. Die Puppenspieler*innen sind nun im gesamten Bühnenraum frei beweglich, was neue technische Möglichkeiten für die Beleuchtung mit sich bringt. Die Bühnenbilder sind karg und auf das Wesentliche beschränkt. Ein Beispiel hierfür ist „Die kluge Bauerntochter“ in der Regie von Carmen Paulenz, die von einem Planwagen aus gespielt wird und mit schlichten Puppen mit einfachen Proportionen und skizzenhaften Holzköpfen arbeitet. Auch hier findet die Aussage, Puppentheater sei Schizophrenie, Anwendung, denn „Genau da ist das Puppentheater auch immer zu Hause: einerseits hoffnungslos altmodisch und andererseits immer auf dem Sprung zum Experiment, zum modernen Gesamtkunstwerk.“2

Während der Intendanz Dietmar Müllers von 1988 bis 1994 entstehen auch wieder Inszenierungen, die sich an ein erwachsenes Publikum richten. Beispielhaft hierfür sind Bertolt Brechts „Arturo Ui“ und „Der Wunschpunsch“ von Michael Ende.

Obwohl der Saal vor der 1984 begonnenen, vier Jahre andauernden Renovierung des Theatergebäudes stets gut gefüllt ist, da Schulen Anrechte auf die 240 Plätze besitzen, reduziert sich die Zuschauerzahl nach dem Umbau drastisch. Im folgenden Jahrzehnt findet am Puppentheater Dresden eine Fokusverschiebung hin zum Schauspiel statt, Puppen agieren in vielen Inszenierungen nur noch im Hintergrund. Das Repertoire dominieren zu dieser Zeit Shakespeare-Adaptionen. Im Jahr 1994 übernimmt Dirk Neumann die Intendanz des Puppentheaters Dresden und zwei Jahre später entwickelt Wintermann „Frau Holle“, eine von ihr dazu ernannte Protest-Inszenierung gegen die in ihren Augen stattfindende Abwertung der Puppe. Die Inszenierung ist als Soloformat mit drei Puppen  konzipiert.

Im Rahmen ihres Engagements am Puppentheater Dresden nimmt Wintermann an zahlreichen Gastspielen und mehreren Puppenspielfestivals teil. Als freischaffende Künstlerin partizipiert sie auch an den bekannten Festivals in Mistelbach und Straubing. Es besteht ein reger Austausch des Dresdner Ensembles mit Puppentheatern des sozialistischen Auslandes, im Rahmen der Festivals kommt es auch zum Kontakt mit Gruppen aus der BRD. Für ein Gastspiel mit der Inszenierung „Pinoccio“ reist Wintermann kurz vor der Wiedervereinigung gemeinsam mit dem Puppentheater Bautzen nach Italien, einigen Mitgliedern des Ensembles wird die Ausreise aus der DDR jedoch verwehrt. In den 90er Jahren führen Gastspiele Wintermann unter anderem nach Bonn, Zwingenberg, und München.

 

Wintermanns Tätigkeit als freischaffende Puppenspielerin

Wintermann hat immer schon großes Interesse am Einzelspiel. Neben ihrem Engagement am Puppentheater Dresden, ist sie von 1981 bis 1988 als freischaffende Puppenspielerin tätig. In dieser Zeit arbeitet sie für das Trickfilmstudio Dresden, ist beim Fernsehfunk Berlin tätig und wirkt in Inszenierungen des Puppentheaters Bautzen mit.         
Von 1989 bis 1998 ist Wintermann erneut Teil des Dresdner Ensembles. Ihre „Frau Holle“-Inszenierung und die damit verbundene Rebellion gegen die Abwertung der Puppe sind für sie der entscheidende Schritt, nach neun Jahren als Ensemblemitglied wieder als freischaffende Künstlerin tätig zu werden. Im Jahr 1998 kommt es schließlich zum Bruch mit dem Intendanten Dirk Neumann und Wintermann nimmt ihre „Frau Holle“ nach 40 Aufführungen am Puppentheater Dresden mit in ihre zweite Phase der Selbstständigkeit. Auch ihre Inszenierung von „Kleine Frau was nun“ stammt ursprünglich aus der Zeit im Ensemble des Puppentheaters Dresden.

Im Jahr 1999 nimmt Wintermann eine Lehrtätigkeit an der Technischen Universität Dresden auf. Vierzehn Jahre lang unterrichtet sie das Fach Puppenspiel für Pädagogikstudent*innen mit dem Hauptfach Kunst. Insgesamt entstehen in diesem Rahmen 28 Inszenierungen, die jeweils zum Semesterende aufgeführt werden. Besonders die Aufführungen von Peter Hacks „Armer Ritter“ und „Die wilde Reise durch die Nacht“ von Walter Moers erregen viel Aufmerksamkeit. Zudem bietet Wintermann Kurse und Weiterbildungen für Erwachsene an und ist seit 2001 Dozentin an der Akademie für Kreativitätspädagogik in Leipzig, wo sie das Fach Figurentheater lehrt. 

Während die Arbeitszeit an einer Inszenierung im Ensemble auf circa vier Wochen beschränkt ist, genießt Wintermann als freischaffende Künstlerin die Wandelbarkeit ihrer Inszenierungen, die auch nach der Premiere ständig weiterwachsen und sich verändern. „Zwei bis drei Jahre gehe ich mit einem neuen Stück schwanger.“ erklärt sie. So entstehen hauptsächlich Märchen-inszenierungen für Kinder ab drei Jahren, wie zum Beispiel „Hänsel und Gretel“ und ab 5 Jahren wie „Die Schneekönigin“ und „Däumelinchen“. Indem sie vordergründig Kinder mit ihren Inszenierungen anspricht, möchte Wintermann Emotionen transportieren und ihr Publikum nicht mit oberflächlichem Humor abspeisen. Ihre Textbearbeitungen zielen darauf ab, das Publikum aktiv in die Inszenierungen einzubinden. Bei der Adressierung von Kindern fällt es ihr leicht, mit zwischenmenschlichen Reaktionen wie Hilfsbereitschaft zu spielen, während Wintermann es als eine andere Art von Herausforderung sieht, Erwachsene und vor allem Teenager auf diese Art zu erreichen. Trotzdem spielt Wintermann Ihre Stücke auch für ein erwachsenes Publikum.      
Über die Entstehung ihrer Figuren sagt Wintermann: „Die Bauweise ist dem Stück untergeordnet.“ So wählt sie das verwendete Material passend zum Thema der Inszenierung aus. Beim „Tapferen Schneiderlein“ dominieren verschiedene Stoffe die Gestaltung der Puppen und des Bühnenbildes, bei „Frau Holle“ stehen die Farben Weiß und Blau im Mittelpunkt und bei der „Klugen Bauertochter“ ist Holz das bevorzugte Material. Auch die Kostüme sind entsprechend gestaltet, so gibt es in der „Frau Holle“-Inszenierung einen gelben Mond und eine orange Sonne. Die Figuren entwirft Wintermann gemeinsam mit Martina Großer, einer Ausstatterin des HYLAS-Trickfilmstudios in Dresden, mit der sie bereits seit 1998 zusammenarbeitet. Wintermann baut die gemeinsam erdachten Puppen selbst, bevor sie von ihrer Ausstatterin liebevoll bemalt werden. „Alles, was auf der Bühne ist, wird auch benutzt“ sagt Wintermann. So hat kein sichtbarer Gegenstand lediglich eine Zierfunktion. Die Kulissen sind in kofferraumtauglichem Format gehalten, denn entsprechend der starken Fokussierung ihrer Arbeit auf eine pädagogische Perspektive, sind die Aufführungsorte von Wintermanns Inszenierungen hauptsächlich Kindergärten, Schulen und private Kulturräume. 

Abschließend äußert Wintermann sich bedauernd darüber, dass die Anerkennung des Berufes der Puppenspieler*in in den letzten Jahren deutlich gesunken ist, da es in Deutschland keine geschützte Berufsbezeichnung gibt und die Anforderungen dieses künstlerischen Berufsbildes häufig unterschätzt werden. Ihren besonderen Respekt verdienen die Inszenierungen und Figuren des Puppentheaters Tübingen, die sie als sehr inspirierend empfindet. Aber auch in ihrem eigenen Atelier warten noch einige Inszenierungen auf ihre Umsetzung. 

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Am 19.01.2018 bin ich abends mit Frau Wintermann verabredet. Ihr Hof liegt etwas abseits auf dem Land und nachdem ich ihr Reich durch das hölzerne Tor betrete, bin ich sofort verzaubert von ihrem Zuhause, einem alten Bauernhaus, eingerichtet mit viel Liebe zum Detail. Die Künstlerin kredenzt mir Gewürztee, spielt mir am Küchentisch kurze Episoden mit einem Räuchermännchen vor, um ihre Ausführungen zu unterstreichen, tritt in Dialog mit einem Blumenstrauß, stöbert in Schubladen und Winkeln ihres Ateliers, zeigt mir Fotografien und technische Gerätschaften zum Trainieren der Figurenführung und Sprechübungen aus ihrer Studienzeit. Ich genieße das lebhafte Gespräch und kann schließlich den melancholischen Beigeschmack, der der Puppenspielkunst in Zeiten von popcorngarnierten Kasperle-Aufführungen im Zirkuszeltformat und Unter-der-Gürtellinie-Unterhaltung beiwohnt ein wenig nachspüren.

Der Abend lässt mich fasziniert und nachdenklich zurück. An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Karla Wintermann für ihre Aufgeschlossenheit meinen Fragen gegenüber bedanken. A.-L. Binder

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1Dietmar Müller, „Theaterportrait. Puppentheater der Stadt Dresden“, in: Das Andere Theater
 2 (1991), 3-5.

2Heiki Ikkola, „Mut zum Eigensinn. Das Puppentheater-Ensemble in Dresden“ , in: Das Andere
 Theater
48 (2002), 9-10.