Essays

Wozu Theater für Kinder und Jugendliche?

Catherine Poher

Die französische Theatermacherin Catherine Poher beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Theater für Kinder. Ihre szenischen Arbeiten wurden weltweit eingeladen und ausgezeichnet. In dem hier veröffentlichten Text denkt Poher über grundlegende Fragen eines Kindertheaters nach.

Ich habe mich nie gefragt, warum man Theater für Kinder und Jugendliche machen sollte. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Greise leben alle in derselben Welt und teilen alles, was auf Erden ist. Ich mache Theater – Punkt! Ich habe meine Karriere in den 70er Jahren begonnen, mit einer Gruppe bildender Künstler, die theatrale Interventionen im öffentlichen Raum durchführte. Die Arbeit war intellektuell und vorwiegend auf die Ästhetik konzentriert, es gab keinen direkten Kontakt zum Publikum. Als ich Mutter wurde, fand ich diese Distanz zum Publikum plötzlich unerträglich. Ich wollte eine Verbindung schaffen, Intimität herstellen. Ich wollte Menschen zusammenbringen. Und das tiefe Gefühl wieder verspüren, das man erlebt, wenn man gemeinsam mit anderen eine Erfahrung macht. Seit 1981, dem Jahr, in dem mein Sohn geboren wurde, versuche ich, ein Theater zu schaffen, das sich auch Kinder und Jugendliche ansehen können, ohne Kompromisse in der künstlerischen Qualität eingehen zu müssen. Ich habe festgestellt, dass Kinder sehr offen sind für Poesie, Philosophie, abstrakte Kunst, für die verschiedensten Arten von Musik, wenn ein Erwachsener seine eigene Leidenschaft, sein Interesse oder seine Neugierde mit ihnen teilt. Im direkten, sinnlichen, intimen Kontakt sein, gemeinsam eine Erfahrung machen. Nah bei sich sein. Um dabei nicht mein erwachsenes Publikum zu verlieren, musste ich auf drei sehr verschiedenen Ebenen arbeiten.
Auf der sinnlichen Ebene, die sehr wirkungsvoll und direkt ist, der Ebene des tiefen Verständnisses, des intimen Widerhalls (im Bauch oder im Herz), die man das, was ist nennen könnte. Diese unbewusste, archaische Ebene spricht die Kinder an, die ihre Erfahrungen über ihren Körper machen, aber auch die Erwachsenen, weil diese Ebene das Kind in ihnen wachruft. Ich arbeite sehr genau an Klang, Licht, an allem Visuellen. Von den Kindern habe ich gelernt, keine Angst vor dem Banalen, Alltäglichen, dem direkten Kontakt zu haben. Denn das Banale und Alltägliche kann sehr poetisch sein, wenn man es nur ein wenig verwandelt. Die narrative Ebene spricht alle an. Auf dieser Ebene spielt sich die Psychologie der Figuren ab. Schließlich die symbolische, mythische Ebene, die vor allem die Erwachsenen anspricht.
Ich habe in meinen Stücken immer Themen behandelt, die für mich Fragen aufwarfen, die mich während des Schaffensprozesses interessierten. Zum Beispiel die Freude an der Wiederholung, das Aufeinandertreffen von Moment und Ewigkeit, die inneren Grenzen und die Grenzen zwischen Kulturen oder Ländern, die unterschwellige Anwesenheit des Todes, selbst in den Momenten, in denen man eigentlich gerade feiern will, die Frage, wie man Abschied nehmen kann… Und ich habe festgestellt, dass man mit Kindern über alles reden kann. Wichtig ist die Art und Weise, auf die wir über schwierige Themen mit Kindern sprechen. Ich zeige keine pornografischen Szenen, sondern rede darüber, wie man sich vom anderen angezogen fühlt, über die Freude an der Begegnung, die Lust. Ich spreche nicht über Folter oder psychologische Gewalt. Sondern vom Gefühl der Schwäche gegenüber jemandem, der Gewalt ausübt, von der Angst. Die Grausamkeit der Welt muss nicht im Theater entdeckt werden, leider dringt sie oft viel zu früh in das Leben der Kinder ein. Und es ist die Aufgabe ihrer Erwachsenen, sich dann den Problemen zu stellen. Aber ich habe keine Angst davor, meine eigenen Fragen, meine philosophischen, metaphysischen, poetischen Reflexionen mit den Kindern zu teilen und ihnen schwierige Situationen vorzuführen.
Meine Ästhetik hat sich nicht verändert. Als bildende Künstlerin habe ich meine Arbeit genauso weitergeführt, ohne mich zu fragen, was Kindern gefallen könnte. Ich habe mich nicht unter den Scheffel der Disney-Ästhetik begeben, von der alle Werke für Kinder beeinflusst sind. Eine theatrale Sprache, die alterslos ist, spricht in uns den Erwachsenen an, der wir sind, und das Kind, das wir einmal gewesen sind. In Kindern spricht sie das Kind an, das sie sind, und den Erwachsenen, der sie einmal sein werden. Erwachsene und Kinder beeinflussen sich gegenseitig, wenn sie gemeinsam ein Theaterstück oder ein Kunstwerk ganz allgemein erleben, ja, man kann sagen: wenn sie das Leben gemeinsam erleben.
Meine Arbeit als Künstlerin steht in Verbindung mit dem Kind in mir. Dieser Teil von mir, der in mir schwingt und über alles staunt. Diese Fähigkeit zum Staunen gibt uns die Möglichkeit zur Begeisterung. Ich arbeite an mir, um dem anderen etwas zu geben. Diese theatrale Suche ist nicht allein künstlerisch, sondern auch politisch. Sie ist eine Reaktion auf unsere Gesellschaftsordnung, die seit der Industriellen Revolution zwei Gruppen an den Rand gedrängt hat– Kinder und alte Menschen – und sie zu beiden Seiten der Welt des arbeitenden Produktiven Menschen über den Tellerrand hat fallen lassen. Durch die Abtrennung der Kinderwelt von der Erwachsenenwelt entstand der Mythos von der glücklichen Kindheit. Die Erwachsenen möchten, dass die Kindheit eine Zeit ohne Sorgen und Verpflichtungen ist. Sie möchten die Kinder vor dem Leben beschützen, vor allem, was schwierig ist, und damit die Kinder sich nicht langweilen, werden sie unterhalten. Es wird kaum noch versucht, Kinder durch körperliche oder geistige Herausforderungen zu stimulieren.
Durch die Auseinandersetzung mit der Kunst entwickelt das Kind das Denken, seine Kreativität und seine Selbsterfahrung. Denn das Erleben von Kunst ist ein ständiger Dialog zwischen sich selbst und dem Werk. Kunst kann unsere Art und Weise, die Welt zu sehen, ändern, sie öffnet unsere Sinne, stärkt unseren kritischen Geist und verbindet uns mit der Welt. Sie ist ein seltsamer poetischer Dialog, der sich zwischen Erwachsenen und Kindern entspannt, wenn sie gemeinsam ein Kunstwerk erleben.
Ich entwickle weiterhin Stücke, die auch an Schulen gespielt werden können. Es ist wichtig, dass die Stücke an den entlegensten Orten gespielt werden können, dort, wo es nur wenig Kultur gibt. Dank der Schulen ist das möglich. Dazu bedarf es aber einiger Arbeit: der künstlerischen Ausbildung der Lehrer und der Zusammenarbeit zwischen den Programmgestaltern kultureller Institutionen und den Lehrern, die für die Schulen die Stücke auswählen. In Dänemark werden leider fast nur die allertraditionellsten Stücke, die aus künstlerischer Sicht am uninteressantesten sind, eingekauft, weil die Lehrer Angst haben, wenn sie etwas sehen, das nicht sofort klar und offensichtlich auf der Hand liegt. Sie haben nicht gelernt, ein Kunstwerk zu erleben. Sie haben Angst, es nicht zu verstehen. Deshalb bieten sie ihren Schülern nur mindere Qualität. Die schlechte Kopie eines bekannten Kinderbuchs oder eines Märchens. Oder ein realistisches Stück darüber, wie man sich die Zähne putzt, über das Unglück, wenn Eltern sich scheiden lassen -  Hühner, die Eier legen und dabei eine Oper singen. Es ist wichtig, sich zu fragen, ob das Theater den Kindern etwas beibringen, sie unterhalten oder ihnen eine unbekannte Welt eröffnen soll. Es gibt Stücke, die alle drei Möglichkeiten abdecken. Wichtig ist auch, dass die Schulen ihre Schüler daran gewöhnen, Theater zu schauen, alle möglichen Arten von Theater. Nicht nur Stücke, die sich für den Unterrichtsplan eignen, sondern auch Stücke, die die bestehende Ordnung umwerfen.
Wir, die Erwachsenen, sollten unsere Erfahrungen mit den Kindern teilen: wie wir vor einem Bild in Entzückung geraten oder wenn wir malen, ein Gedicht lesen oder schreiben, beim Spaziergang in der Natur, wenn wir eine Geschichte oder Musik hören, beim Spielen, beim Tanzen, wenn wir schöne Architektur betrachten, Dinge herstellen, die völlig nutzlos sind, beim gemeinsamen Nichtstun, beim Beisammensein … usw. Dadurch entwickelt der Mensch seine Freude am Leben, er entwickelt Respekt, Selbstkenntnis und die Wahrnehmung des anderen, und auch die Fähigkeit, sein ganzes Potenzial zu entfalten, was in einer Welt, die keine Zeit mehr zum Träumen hat, um jeden Preis verteidigt werden muss. Ein Kunstwerk für Kinder zu erschaffen ist nicht kindisch, sondern dringt im Gegenteil in den Kern der Dinge, und man darf keine Angst haben vor Ausdrucksvielfalt, Sprachenvielfalt, unverständlichen Worten, die zu Musik werden können, vor choreografierten oder unzusammenhängenden Bewegungen, optischen oder klanglichen Assoziationen, die uns ein kleines Eckchen des Rätsels des Lebens enthüllen.

 

 

Der Text basiert auf einem Vortrag im Rahmen des Festivals "Theater der Dinge",  2013 an der SCHAUBUDE Berlin. Im Mai 2014 beteiligt sich Catherine Poher als Referentin am Symposium »Artistic Freedom vs. Cultural Education« in Bochum.
Übersetzung aus dem Französischen: Jayrome Robinet (Die französische Originalfassung dieses Essays kam in double 29/ Heft 1-2014 zum Abdruck.)

 

weitere Informationen zur Autorin: www.catherinepoher.dk/