Die aktuelle Kritik

HfS Ernst Busch, Berlin: "Freispiele 2022"

Von Tom Mustroph

Vom Lachen und Sterben: "Freispiele 2022“, die Präsentation der Vordiplome der Abteilung Puppenspiel der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, zeichnet sich durch eine große Vielfalt in Themen, Ästhetiken und Spielweisen aus.

Da wächst etwas Interessantes nach. Dieses Fazit durfte man bei der Präsentation der freien Vordiplome des 46. Jahrgangs der Zeitgenössischen Puppenspielkunst der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch ziehen. Vier der insgesamt sieben Projekte waren an einem Abend zu sehen. Der Ablauf selbst war schön komponiert, ganz so, als hätten Kurator*innen das Programm gestaltet und wären um die halbe Welt geflogen, um Produktionen zu sichten – es kam aber alles aus dem eigenen Haus.

Auf eine anarchische Komödie mit Handpuppen – „Neuscheitlingen“ mit Konrad Schreier und Sean Grimm – folgte eine poetisch-kraftvolle Studie über das Eins-Werden zweier Personen mit Hilfe von Marionetten und Schauspiel: „EinsundEinsgleichEins“ mit Leah Wewoda und Laura Schulze. „Der späte Gast“ von Mia Lehrnickel und Paul Kemner – zusätzlich noch mit den Spielerinnen Enikö Szasz und Josephine Witt – war eine Splatterkomödie in einem englischen Schloss mit menschengroßen Puppen. Und vom Lachen über den Tod ging es über zum freien Gedankenflug des Geistes eines Menschen, dessen Körper ans Bett einer Intensivstation gefesselt ist. „Schlafstadium N“ von Melissa Stock (weitere Spieler*innen: Annika Schaper, Sophia Walther und Patrick Borck) hatte eine von zwei stummen Spielerinnen animierte realistische Männerfigur im Zentrum. Projektionen und Stimmen aus dem Off sorgten für zusätzliche Ebenen.

Die Themen waren also sehr unterschiedlich, Spielarten und Puppen ebenfalls. Auffällig war, dass auf gute, teils überraschende Eröffnungen Wert gelegt wurde, ganz so, als sei dies Thema in den Seminaren gewesen. Schreier und Grimm etwa spazierten schrill gewandet in Kleid und Glitzerjacke mit Akkordeon und Ukulele auf die Bühne, um dann im Unterboden der Puppenbühne zu verschwinden und das Feld den von ihnen geführten Handpuppen zu überlassen. Sie erzählten wilde Geschichten vom Leben in der Provinz, mit durchgeknallten Lokalfernsehmoderatoren, Entführungen, Bombenattentaten und Szenen in Nervenheilanstalten. Leider waren die einzelnen Episoden nur bedingt komisch; Schreier und Grimm schienen sich beim Erzählen derselben noch am meisten darüber zu amüsieren. Mehr Feinschliff an den Pointen und der dramaturgischen Ausbalancierung wäre hier durchaus hilfreich gewesen. Immerhin, die Wahrnehmungskanäle im Publikum wurden geöffnet, sogar das Zwerchfell gelegentlich aktiviert. Und die Figurenführung selbst war durchaus souverän.

„EinsundEinsgleichEins“ © Matthias Naumann

„EinsundEinsgleichEins“ überraschte zunächst mit einer Kissenlandschaft. In diese wurden von oben zwei Marionetten herabgelassen. Die waren ins gleiche rote Kostüm gekleidet und in Haltung und Physiognomik an ihre jeweilige Fadenführerin angelehnt. Es entspann sich ein Spiel auf zwei Ebenen über das Eins-Werden. Die Marionetten fungierten als eine Art Über-Ich des Verschmelzens. Schulze und Wewoda spielten sie; im Laufe der Vorstellung entstand aber auch der Eindruck, als führten die Marionetten sie. Eine schöne Umkehrung der Machtverhältnisse.

Die Marionetten immer mal wieder nach oben entschweben lassend agierten Schulze und Wewoda in sehr körperlichem Spiel Stationen des Zusammenwachsens aus. Freude am und Sehnsucht zum Einswerden wurden deutlich. Die Tücken der Spiegelung in der jeweils anderen Person aber auch. Narrative Grundlage war der Roman „Zweier ohne“ von Dirk Kurbjuweit. Die Ruderaktivitäten dieses besonderen Boots ohne extra Steuerperson waren denn auch zentral. Und in der Kleiststadt Berlin steuerte die Produktion schließlich auf die ultimative Form des Einswerdens zu: Die Verschmelzung im Sturmlauf hin zum Tod. „EinsundEinsgleichEins“ war eine sorgsam konzipierte emotionale Achterbahnfahrt.

"Der späte Gast" © Matthias Naumann

„Der späte Gast“ zelebrierte hingegen die komische Annäherung an Tod und Mord. Im überreich ausgestatteten Salon eines englischen Adelssitzes versucht das verruchte Personal einen überraschend eingetroffenen Gast vom Treffen mit der Hausherrin abzuhalten. Ausflüchte werden gesucht, denn das Personal hat sich der Herrin durch eine Bluttat zu entledigen versucht. Der Gast ist auch nicht ohne; er will das Anwesen für einen Raub auskundschaften. Die Puppen sind Halbfiguren, vom Bauchnabel bis zum Scheitel, und wachsen aus dem Kostüm der Spieler*innen heraus. Das verleiht ihnen große Körperlichkeit. Die jungen Gesichter der Studierenden kontrastieren reizvoll mit den ältlichen Antlitzen der Figuren. Die Patina von zwei bis drei Jahrzehnten wurde auf die Puppengesichter gelegt. Man wünscht den Spieler*innen ein besseres Altern, als sie es auf den Gesichtern ihrer Puppen vorwegnahmen. Bis zur Klimax – die totgeglaubte Hausherrin taucht blutbeschmiert zum Rachefeldzug auf – werden Genremotive von Agatha Christie-Krimi und Splatterkomödie gekonnt durchgespielt. Das Ensemble zeigt, was es kann. Und man wünscht sich das gleiche Können bei etwas herausfordernderen Thematiken.

"Schlafstadium N" © Matthias Naumann

„Schlafstadium N“ erwies sich als die experimentellste Arbeit. Zunächst sieht man nur Scans eines menschlichen Gehirns an die Metalltür der Rückwand der Probebühne projiziert. Davor ist ein kleines Bett von der Decke herabgelassen. Auf ihm liegt eine etwa armgroße Figur, ein realistisches Abbild eines jüngeren Mannes. Zwei ganz in weiß gekleidete Gestalten – mit weißen Masken ist auch das komplette Gesicht verhüllt – betreten die Bühne. Sie haben etwas Geisterhaftes an sich. Sie hauchen Leben in die Ganzkörperpuppe ein und animieren sie. Während die Puppe aus dem Bett befreit wird, dank der Spielerinnen erst langsam den eigenen Körper entdeckt, zu ersten Bewegungen ansetzt und schließlich Flugversuche unternimmt, konstatiert eine Stimme aus dem Off den medizinischen Status des Patienten. Trotz aller Bewegung der Puppe nehmen die Maschinen keinerlei Veränderung der Vitalfunktionen wahr. Das Spiel macht deutlich, wie wenig wir über Bewusstseinszustände von Komapatient*innen wissen und vor allem, wie unvollkommen in dieser Hinsicht all die medizinischen Apparaturen sind. Ohne die Corona-Pandemie aufdringlich zu bespielen, drängen sich natürlich Assoziationen zu aktuellen Intensivpatient*innen auf. Aufgelöst wird der Abend durch Bob Dylans „Knocking on Heaven‘s Door“. Es bleibt in der Schwebe, ob dies eine Erleichterung bedeutet oder ob es nicht sehr traurig ist, dass das Fliegen der Figur so zum Ende kommt. „Schlafstadium N“ wagt sich, die tiefen und dunklen Gefühle anzurühren. Sehr filigran ist der Umgang mit der Puppe. Ein sehr reifes freies Vordiplom, viel reifer, als es der Untertitel der Gesamtveranstaltung „Labor für Halbgares“ erwarten ließ.

1 Kommentar
Peter Waschinsky
01.03.2022

Freispiele

Das fdp-forum begrüßte meinen Vorschlag, ähnlich wie nachtkritik.de immer noch kurze Auszüge aus anderen Rezensionen anzuhängen – die es allerdings für Puppenspiel oft nicht gibt. Daher hier die Zusammenfassungen meiner internen Bewertung von 2 Freispiel-Arbeiten, die ich wie gewohnt der Puppenspiel-Abt. gemailt hatte. Im Wesentlichen sehe ich es positiv wie Tom M. und es machte deutlich, was die Schaubude vorenthält. Ich beschränke mich auf das, wo ich abweiche. Insgesamt hat man anders als so oft in den vergangenen 50 Jahren der Abteilung kaum den Eindruck, daß zuviel zum Schauspiel geschielt wird. Ich hoffe, man hält damit nicht alle Probleme für gelöst, wie die zu wenigen Marionetten-Dozenten. Und hoffentlich wird nicht wieder nach einer kurzen Pro-Puppen-Phase für lange Zeit der letzte Schrei, selber als Mensch zu spielen...
1.„Der späte Gast“
ist sicher ein Talentbeweis der beiden Autoren und Puppenspielstudenten Mia Lehrnickel & Paul Kemner fürs Unterhaltungsfach und wenn ihnen noch wildere Schlenker im Ablauf und außerdem deutliche Begründungen für den Einsatz von Puppen einfallen - bzw. für das (hier verzichtbare) Aussteigen der Spieler und ihr Selber-weiter-Spielen - müssen sie vielleicht auch nicht wie üblich bei Erfolg ins Schauspiel wechseln. Auf jeden Fall möchte ich sie ermutigen. Allerdings auch die Puppentheater, solche Spieltexte anzunehmen und Autorentalente zu fördern. Statt allzuoft auf „Stückentwicklung“ bei den Proben zu setzen.
Die drei Spieler waren zunächst recht erfolgreich bemüht, die Klappmaulpuppen zu beleben, nicht nur mit den Klapp-Mäulern, auch sonst mit kleinen Puppenkopf-Bewegungs-Akzenten. Da dürfte man noch nachlegen. Manchmal fehlte das für das komische Genre wichtige, schein-unlogische nach vorn Sprechen, auch im Dialog, besonders der Butler guckte etwas oft nur zu den Partnern, statt auch Publikumskontakt zu halten.
Während bei Ernst-Busch-Puppe oft schlichte Szenenvorspiele mit Ausstattung oder Video aufgedonnert werden, war mir hier das 8 Meter breite Bühnenbild zu sehr nur Funktion und Fundus. Freispiele sollen ja schon Halbfertiges sein. Hier dürften angehende Puppenspieler mal etwas phantasievoller sein und durchaus schon zeigen, was sie später so oft müssen: Mit fast nichts - aber Ideen - Effekt machen.
2.
„SCHLAFSTADIUM N“
(...) Das vermutete Innenleben kommt per Kommentar wie zeitweise wuchtige Popmusik aus der Konserve - kein allzu frisches Mittel, wie auch das Video.
(...) Der Moment der Belebung war wie immer, wenn halbwegs gut gemacht, ein faszinierender Moment, einer von zweien im Stück. Der andere: Wenn er im Arm der einen Spielerin den Kopf nach hinten sacken läßt - also stirbt.
(...) Während der Ton kaum mal auf die Wirkung von Stille vertraute, honoriere ich die Konsequenz, nur bei den begrenzten Möglichkeiten der Puppe, von beiden animiert, zu bleiben. Allerdings hätte ich mir für die träumerische Selbstwahrnehmung des Patienten einer- und seine so ganz andere Realität, den langsam versagenden Körper andererseits - mehr Unterschiede gewünscht.
Die mittelgroße naturalistische Tischpuppe, offen von sichtbaren Spielern geführt, entstand 1984 in H. Müllers „Bauern“ am Puppentheater Neubrandenburg quasi aus der naturalistischen Marionette, der die Fäden abgeschnitten wurden. Sie ist inzwischen massenhaft im Ernst-Busch-Fundus vorhanden, wie auch an nahezu allen Puppentheatern.
Gerade jetzt bei dieser Studenten-Arbeit bewegte mich die Frage, wie die Verwendung von Mitteln zu bewerten ist, die in der Puppenspielwelt oft nur noch aus Routine benutzt werden - aber bei den vielleicht puppenspielungewohnten jungen Zuschauern vor mir im Saal Faszination auslösten.
Ich fand diese Mittel hier dann insgesamt doch sinnvoll eingesetzt.

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