Die aktuelle Kritik

systemrhizoma, Hildesheim: "Die Schneekönigin*"

Von Anne Küper

Das Künstler*innen-Netzwerk systemrhizoma wagt eine queere Interpretation von Andersens Märchenfigur. Mit von der Partie sind weiße Overknee-Stiefel, viel Lametta und die Weisheit Madonnas.

Die Lüftungsanlage rauscht schon, als die Bühne noch im Dunkeln liegt. Langsam mischt sich ein eingespieltes Windgeräusch dazu und überlagert die pandemiebedingte Luftzufuhr im Raum. Das Lüftchen, anfangs milde, wird zum tobenden Sturm, der sich akustisch zu den Ohren vorarbeitet und in die labyrinthischen Gehörgänge saust; ein mindestens doppelter Luftzug rauscht bei dieser Aufführung von Die Schneekönigin* durch das Hildesheimer Theaterhaus.

Übergang und Übersetzung

Bewegungen, die sich an den Grenzen des Sichtbaren vollziehen, aber doch wahrzunehmen sind, treten innerhalb der Performance des Künstler*innen-Netzwerks systemrhizoma nicht nur gleich zu Beginn in Erscheinung. Selina Glockner, Alba Scharnhorst und René Reith setzen sich choreografisch mit Phänomenen der Uneindeutigkeit auseinander, mit Übergangszenarien, in denen Körper zwischen Verschwinden und (Wieder-)Erkennen changieren. Das titelgebende Märchen von Hans Christian Andersen bildet einen losen Ausgangspunkt für die Inszenierung, in deren Verlauf sich etliche Verweise auf die Vorlage finden lassen. Nicht umsonst wird der Raum bestimmt von silbernen Lamettastreifen, die immer wieder ihre Funktion wechseln, mal als Bühnenbild oder Requisite bespielt, mal eine Verlängerung der Kostüme (Malaika Friedrich-Patoine), und die den Blick wie ein Schneegestöber zerstreuen, wenn sie als Schwarm durch die Luft wirbeln. Auch Splittern eines Spiegels sind sie nicht unähnlich, die auf die Erde herunterrieseln. In dieser Performance gilt es, auf Herzen und Augen gut aufzupassen.

Es ist eine Stärke von Die Schneekönigin*, dass systemrhizoma nicht an Andersens Text klebt (die Inszenierung kommt gänzlich ohne Sprache aus), sondern die Gruppe eher an einer Übersetzung interessiert ist: an der Vermittlung eines Gefühls, das sich beim Lesen einstellt, wo Sehnsucht und Grauen miteinander verschränkt sind und die Anmut einer Naturgewalt bewundert werden will.

Fragile Figuren

Drei Teile sind es, aus denen die Performance von systemrhizoma besteht (Dramaturgie: Anna-Carolin Weber), formal abgetrennt durch unterschiedliche Bewegungsqualitäten, Umgänge mit Licht (Thimo Kortmann), Personalwechsel und die musikalische Gestaltung von Mittmann, der Windgeräusche und knackende Laute kombiniert, Töne um sphärisch-elektronische Klänge ergänzt, bis der Beat droppt. Im zweiten Teil ersteht sie dann endlich auf, diese Schneekönigin (Reith), eine queere Fantasie mit Umhang und weißen Overknee-Stiefeln, keineswegs zu schön, um im Theater wahr zu sein. Durch Krone und Krönung wird sie sichtbar und schafft damit etwas, dass den flüchtigen, immer wieder neu zerfallenden Wesen verwehrt blieb, die zuvor zu beobachten waren, als Glockner und Scharnhorst sich in Ganzkörperanzügen über die Bühne schlängeln, zu Boden stürzen, sich drehen, ohne sich sehen zu können zueinanderfinden.

Die Schneekönigin* muss als Untersuchung einer (post-)dramatischen Grundbedingung verstanden und gefeiert werden, wenn die Inszenierung fokussiert, wie auf der Bühne überhaupt erst so etwas wie eine Figur entsteht. Interessanterweise spielen die Lamettastreifen bei dieser forschend-spielerischen Bewegungen eine entscheidende Rolle. Sie zeigen einmal mehr, wie anschlussfähig viele performativen Anordnungen aus der Freien Szene, die einen spezifischen Umgang mit Material pflegen, an Diskurse des Figuren- und Objekttheaters sind. Derweil fordert die Unkontrollierbarkeit des glänzenden Materials nicht nur die Wahrnehmung der Zuschauenden heraus, sondern ebenso die Performer*innen und schneekönigliche Stiefelabsätze. Jene Figur mitsamt Schuhen ist bei systemrhizoma keine stabile Organisation. Sie ist fragil, eine beinahe beiläufige Anordnung von Teilchen, die unter unseren erwartenden Blicken schmilzt wie eine Schneeflocke auf der Zunge.

Geschüttelt und gerührt

»Man kann sich darüber streiten, ob Andersen hetero-, bi- oder homosexuell war. Aber eines ist sicher: Dass er unglücklich war. Ständig zurückgewiesen, gekränkt, aber auch wieder unfähig zu offener Erklärung«, notieren Markus Metz und Georg Seeßlen in einem Artikel zu dem dänischen Schriftsteller des Kunstmärchens, das systemrhizoma auf empathische Art interpretiert. Was bei Andersen möglicherweise schon an queer-feministischer Lesart im Text angelegt ist, stellen die Performer*innen aus, denken weiter, entwerfen mit der Performance eine kleine Utopie, in der die Macht des Zuschauens gestört wird. Wäre diese Aufführung eine Schneekugel, so ließe sich fragen, wer hier eigentlich wen schüttelt. Oder bin nicht ich es als Zuschauerin, die mit ihrem Blick diese Aufführung in der Hand hat, die sie zur Seite kippen kann, bis sie mir zu entgleiten droht? »You only see what your eyes want to see«, singt Madonna, während Schneekönigin Reith über die Bühne stolziert. Und später: »You hold the key«.

Mit Die Schneekönigin* legt systemrhizoma eine Inszenierung vor, die den Zuschauenden gefährlich nahekommt und verschiedene Zugänge ermöglicht: über die Theaterreflexion (Figuren/Auftritte/Sehen und Gesehen Werden), über Identifikation und Drag, über eine affektive Ebene von Spannung und Schauder, Traurigkeit und Wut, über Körper und die verschlingenden Begierden abseits der Heteronormativität, wenn zu viele Küsse töten. Die Performance verführt dazu, sich wegzuträumen, dem Wind zu lauschen, der weiterdrängt und mich bald verlassen wird. Aber für einen kurzen Moment, eine Ewigkeit gar, sind wir zusammen.

 

systemrhizoma – Die Schneekönigin*

Premiere: 11.11.2021, Theaterhaus Hildesheim

Weitere Aufführungen: 12./13.11.2021 im Theaterhaus Hildesheim, 17./18./19.12.2021 im QUARTIER Theater in Hannover

Dauer: circa 45 Minuten

 

Künstlerische Leitung: René Reith

Choreografie und Tanz: Selina Glockner, Alba Scharnhorst, René Reith

Lichtdesign: Thimo Kortmann

Kostümbild: Malaika Friedrich-Patoine

Sounddesign: Johann Mittmann

Dramaturgie: Anna-Carolin Weber

Fotos: systemrhizoma

Künstlerische Assistenz: Katharina Weitkamp

Gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, die Stiftung Niedersachsen und das Kulturinstitut der Stadt Braunschweig

Weitere Informationen unter: https://www.systemrhizoma.com

Die geplante Premiere im November letzten Jahres sowie weitere Aufführungstermine mussten aufgrund der Lockdown-Maßnahmen abgesagt werden, nun aber wird die Performance mit einem Jahr Verspätung endlich gespielt. In jener Zeit der Verzögerungen und Verschiebungen ist auf Basis der Inszenierung unter Leitung des Sounddesigners Johann Mittmann eine weitere Arbeit entstanden: ein Hörstück, das online hier abrufbar ist und am 08.12.2021 auf Deutschlandfunk Kultur gesendet wird.

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