Essays

Die Puppe, die Figur – das Ding

von Silvia Brendenal

Ein Blick in Vergangenheit und Gegenwart des Puppen- und Figurentheaters

Kasper tauscht Bett und Sarg mit der Großmutter. Er, der von der Staatsmacht Gejagte und zum Tode Verurteilte, versteckt sich in ihrem Bett. Sie, die Lebensmüde, darf endlich sterben und Kasper hat dem Tod wieder einmal ein Schnippchen geschlagen... a
Einem Tänzer begegnet sein Alter Ego in Puppengestalt. Leidenschaftlich, vehement der Tanz dieses ungleichen Paares. Anziehung schwingt ebenso mit wie Ablehnung, der kurze Moment der Wahrhaftigkeit versucht dem Magischen der Illusion zu widerstehen.b
Durch einen Reifrock hindurch scheint man die Beine der laufenden Frau zu sehen - merkwürdig verkleinert und perspektivisch verzerrt. Ein irritierendes Mischwesen aus Mensch und Videobild entsteht dort vor unseren Augen... c
Eine Figurenspielerin nimmt ihre, wie ein Vogel anmutende, nahezu zerbrechlich wirkende Puppe auf die Schulter. Gemeinsam heben sie an zum Flug des Ikarus... d
In buntes Papier gewickelte Bonbons verwandeln sich in eine Schar spielender Geschöpfe. Aus dem Spiel schließen sie jenes aus, dessen Papierhülle eine andere ist. Vergessend, dass es auch ihr Schicksal ist, ausgewickelt und gelutscht zu werden... e

Szenische Bilder aus dem breiten Spektrum theatralischer Ausdrucksformen des Theaters der Puppen, der Figuren, der Dinge, die von der künstlerischen Vielfalt dieses Theaters erzählen und gleichzeitig dessen Beziehungen zur bildenden Kunst, zur Performance, zum Tanztheater, zum Schauspiel, zur virtuellen Medienwelt belegen. In kaum einer anderen Theaterkunst vollzog sich in den letzten 20 Jahren eine so tiefgreifende Entwicklung wie im Puppen- und Figurentheater, kaum eine andere Bühnenkunst bewegte sich so gelassen und selbstverständlich auf jenem vielbeschworenen und oft gefürchteten Pfad der Grenzüberschreitungen.
Brunella Eruli, italienische Kunstprofessorin, fasste dieses Phänomen in einem prägnanten Satz zusammen: „Die gegenwärtige Theaterszene scheint von einem Gespenst heimgesucht zu werden: dem Gespenst der Puppe.“1 Wie viel Faszination, Irritation und Unerklärliches steckt in diesen Worten, die wohl auch das Unaufhaltsame meinen. Fest steht: Trotz jener Stimmen, die vehement davor warnten – beispielsweise, die Puppe riskiere mit diesen Grenzüberschreitungen den Verlust ihrer Tradition und damit den ihrer Wurzeln und ihrer Seele – hat die Puppe nach und nach ihre Verbindung zu den Schwesterkünsten des Theaters aufgenommen, folglich die Öffnung des Genres vollzogen.
Eine neue Generation von Regisseuren und Darstellern ist herangewachsen, die die Puppe mit neuem, vorurteilsfreiem Blick betrachtet und in ihr die Trägerin kraftvoller, theatralischer Ideen und szenischer Ausdrucksmittel sehen, die das heutige Theater ausmachen: den Körper, das Material, die Stimme, das Bild, das Wort, den Raum. Das könnte heißen, dass sich das Puppen-, Figuren-, Objekt- oder Materialtheater und deren Schwesterkünste gegenwärtig in der gemeinsamen Suche nach einer Theatersprache begegnen, in der die althergebrachte Beziehung von Subjekt und Objekt, von Rolle und Darstellung in Frage gestellt und einem gewandelten bildnerischen bzw. ästhetischen Konzept zugeordnet werden. Entgegen dem laut vernehmbaren Schrei nach Abgrenzung und Schutz des Genres lag und liegt in dieser gemeinsamen Suche eine unglaublich schöpferische Provokation für das Puppen- und Figurentheater: Zurückgeworfen auf sich selbst durch die „fremde“ Aufmerksamkeit, ist es herausgefordert, immer wieder und neu das Eigene, das Besondere zu behaupten, somit den Belebungsprozess / die Animation als den zentralen Gestaltungsvorgang der Kunst des Puppenspiels immer wieder ins Zentrum jeglicher künstlerischer Auseinandersetzung zu rücken.
Und so das geschieht, spricht die Puppe, das Objekt, das Ding seine eigene leise, unüberhörbare Sprache – wie in dieser Szene aus „Ein(s)ein“ f : Stille, Halbdunkel. Ein kleines Wesen schält sich aus einem Kokon. Ein Mensch, androgyn, bar jeglicher Geschlechtsmerkmale. Abbild der Schöpfung an und für sich, das es wagt, auf dem hoch oben gespannten, schwankenden Seil einen Abgrund zu überqueren, unbekanntem Ziel entgegen. Schritt für Schritt nähert es sich den erwartenden, menschengroßen Händen – Halt und neuerliche Gefahr zugleich.


In der öffentlichen Wahrnehmung wird diese kunstvolle Theater-Sprache oft nicht gehört, oder auch überhört, und das Figurentheater Deutschlands ringt wie kaum eine der anderen darstellenden Künste um seine gesellschaftliche und kulturpolitische Anerkennung. Das hat seine Ursache vor allem darin, dass das Verständnis vom Puppen- und Figurentheater nach wie vor geprägt ist durch Klischees und Vorurteile.
Puppen- und Figurentheater, im öffentlichen Bewusstsein zugeordnet dem Kindertheater – was zunächst nichts Ehrenrühriges beinhaltet, wird doch das Repertoire des Puppen- und Figurentheaters tatsächlich von Inszenierungen für Kinder dominiert –, wird in vielen Fällen als pädagogisch-didaktisches Instrument verstanden, wird degradiert zur Kinderbelustigung, oft gleichgesetzt mit inhaltsloser Belanglosigkeit.
Doch die Puppenspieler schaffen eine andere künstlerische Realität: Ihre phantasievollen, poetischen Produktionen für Kinder verblüffen nicht nur durch den ungewöhnlichen ästhetischen Zugriff, sondern vor allem durch das schöpferische Bündnis, das die Macher mit dem kindlichen Publikum eingehen. Schließlich machen die kleinen Zuschauer oft sicht- und erlebbar, was im Theater gewöhnlich verborgen bleibt: den aktiven Prozess des Wahrnehmens.
Auch das Puppen- und Figurentheater für Erwachsene – lange Zeit dem offiziellen Kunstbetrieb nicht mehr als eine Randnotiz wert – hat sich inzwischen zu einer unverrückbaren künstlerischen Größe in der deutschen Theaterlandschaft entwickelt. Seit über drei Jahrzehnten stellen sich Puppen- bzw. Figurenspieler, ausgebildet an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, Abteilung Puppenspielkunst oder an dem Studiengang Figurentheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, der ästhetischen Herausforderung, die sich hinter der szenischen Entdeckung des Verhältnisses zwischen Spieler und Figur, Körper und Material verbirgt. Entstanden sind in den drei Jahrzehnten viele herausragende Inszenierungen – jede für sich künstlerischer Ausdruck des sich stetig vollziehenden Wandels der Beziehung zwischen den Akteuren und dem Material, der Bereitschaft der Macher, die Grenze zwischen dem Wesen der Körper und dem Wesen der Dinge spielerisch zu überschreiten.
Wie im Schlussbild der Inszenierung "Novecento" g : Der Darsteller der todesbereiten Titelfigur entledigt sich aller Gestalt gebenden, schützenden Kleidung und kriecht in einen durchsichtigen, aufgeblasenen Ballon, der seinen nackten Körper aufnimmt, wie einen Embryo umhüllt und zugleich deutlich in eine andere Welt entrückt. Mensch und Material, Leben und Tod – so spürbar nahe.

Die Puppe – auch wenn sie sich beharrlich zu wehren suchte, sie ist es, die die radikalste Wende in den vergangenen 20 Jahren deutscher Puppen- bzw. Figurentheatergeschichte erfuhr. Nicht nur, dass in den Zeiten der politischen Wende um die Wiedervereinigung unterschiedliche Theatersprachen aufeinander trafen, auch die Beziehungen zur Puppe als Bühnengestalt konnten verschiedener nicht sein. In der DDR bekannten sich die Puppentheatermacher ganz bewusst zur Puppe, was einem politischen Statement gleich kam. Ging es doch auch um ein Bekenntnis zu einer Puppenspiel-Tradition, die per Doktrin nahezu zerstört worden war und dessen künstlerischer Anspruch sich in dem Begriff Puppenspielkunst determinierte: „Das Wort selbst, wenn man es in seine Bestandteile zerlegt und als kürzeste Bezeichnung eines Programms auffasst, weist auf bestimmte Materialien (Puppe), auf Machart (Spiel) und auf Ziele bzw. Absichten (Kunst) hin. Alle drei Worte sind Begriffe, die einen sehr breiten historischen, kulturellen und sozialen Hintergrund besitzen und mit diesem Kontext, der individuell interpretierbar ist, in die Verknüpfung „Puppen-Spiel-Kunst“ eingehen“.2
In den alten Bundesländern etablierte sich eine künstlerische Bewegung, die der inzwischen durch den Kommerz verschlissenen Puppenspiel-Tradition das kunstvolle, in Produktions- und Wirkungsweise völlig neue Verständnis eines Theaters entgegensetzte, welches das Verhältnis zwischen Mensch und gestaltetem Material, zwischen Lebendigem und Leblosem thematisierte. Begriffe wie Figurentheater, Material- oder Objekttheater entstanden, fassten Fuß und schufen zunehmend ein anderes öffentliches Bewusstsein für ein anderes Theater. Einer der Protagonisten dieser künstlerischen Bewegung war und ist der Darsteller und Regisseur Frank Soehnle, Leiter des figuren theater tübingen h. Jede seiner bisherigen Inszenierungen kam einer ästhetischen Recherche gleich, erforschte die artifizielle Ausdrucksvielfalt der von ihm geschaffenen Figuren, ihr Verhältnis zu den sie umgebenden Schwesterkünsten des Theaters. "Konsequent wird dabei auch das Verhältnis von Spieler und Figur in Frage gestellt: Wer manipuliert wen, wer ist in wessen Macht, wer greift wem in die Fäden?“3
Fragestellungen wie diese schlagen eine Brücke zu den philosophisch-theatralischen Dimensionen einer Theaterkunst, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Ding-Welt, zwischen Geist und Materie als eigenständig definierte, die das Entstehen und Vergehen, Beleben und Sterben, Beseelen und Verdinglichen tatsächlich zu ihrem Inhalt gemacht hat.
Und egal, wie man das dem Darsteller zur Seite gegebene Medium künstlerischen Ausdrucks auch nennen mag, ob nun Figur, Objekt oder Material, selbst die Puppe – nur traditionellerweise als verkleinertes Abbild von Mensch oder Tier verstanden, also als eine Nachahmung, die sich stellvertretend verhält bzw. entsprechend behandelt wird – gesellt sich ihnen selbstverständlich zur Seite, wissend, dass sie alle den Dingen zugehören. Jenen Dingen, die ihrer Beschaffenheit nach die Funktionen von Bildgestalt und Medium der Darstellung in dieser besonderen Theaterkunst zu übernehmen bereit sind.

Theater der Dinge: Vielleicht wird dieser Begriff, den Konstanza Kawrakowa-Lorenz für diese besondere Theaterkunst adaptierte, irgendwann das Puppentheater, Figurentheater, Objekttheater, Materialtheater, Bildertheater, visuelle Theater aus Erklärungszwängen erlösen. Nicht nur, weil er den Gedanken der Liaison von darstellender und bildender Kunst beinhaltet, sondern auch eine Bezeichnung für eine Theaterform ist, „die all die Phänomene zusammenfasst, deren Hauptelement ein dingliches ist“, die auf einer „Begegnung zwischen einer theatralischen Tätigkeit des/der Menschen und der Dingwelt in ihrer Darstellungsfunktion“4 basiert. Eine begriffliche Klammer also für all das, was in dieser Kunst an Ausdrucksvielfalt und schöpferischem Reichtum möglich ist.
Und es scheint kein Zufall, dass das Theater der Dinge immer tiefer in das künstlerische und menschliche Interesse rückt, ist es doch mit einer Form von Wahrnehmung verbunden, die das „vergessene Menschliche“ (Walter Benjamin) an den Dingen ebenso meint wie die Bereitschaft, diese Theaterform als jenen Ort des „Dazwischen“ zu akzeptieren. Als den Ort zwischen Leben und Tod, zwischen Lebendigem und Totem, zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Göttern und Menschen...



1     Brunella Eruli: “Träger unbekannten Lebens” aus „Animation fremder Körper“, Arbeitsbuch „Theater der Zeit“, Berlin, 2000
2, 4 Vorlesungsmaterial von Prof. Dr. Konstanza Kawrakowa-Lorenz an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, Abt. Puppenspielkunst, 2002
3    Katja Spiess: „Poesie des Vergänglichen“ aus „Animation fremder Körper“, Arbeitsbuch „Theater der Zeit“, Berlin, 2000

a   Großmann, „Kapser tot, Schluss mit lustig?“ Regie Hans Jochen Menzel. 2006
b   Gregor Seyffert Cie., „Über das Marionettentheater“ Regie Dietmar Seyffert. 1996
c   Iris Meinhardt, „Intimitäten“ Regie Michael Krauss. 2005
d   Stephanie Rinke/Figurentheater Paradox, „Mrs. Ikarus. Eine vertikale Reise“ Regie Frank Soehnle. 2004
e   Gyula Molnàr, „Piccoli Suicidi (Drei kleine Selbstmorde)“. Regie Francesca Bettini. 1984
  Uta Gebert, „Ein(s)ein“. Künstlerische Mitarbeit Renaud Herbin. 2005
g   Florian Feisel/Puppentheater Magdeburg, „Novecento“ nach A. Baricco. Regie Markus Joss. 2004
h   figuren theater tübingen: 1991 von Frank Soehnle und Karin Ersching gegründet, Gastspiele und Kooperationen

 

Der Essay wurde im Dezember 2010 im Portal publiziert.