Die aktuelle Kritik

Jan Jedenak – Theater figuraler Formen: "Mandragora"

Von Manfred Jahnke

In diesem Hybrid aus Figurentheater und Physical Theatre erforscht Jan Jedenak neues Terrain und entwirft dabei eindrucksvolle Bilder. Was genau es bei dieser Online-Premiere zu erleben gab, weiß Manfred Jahnke zu berichten.

Die Spielfläche liegt im Dunkel, nur in der Mitte ist ein Hügel im grünlichen Licht fokussiert. Dieser scheint von schleimiger Masse, die moosartig strukturiert ist, drei Stangen ragen heraus. Ein Wesen bewegt sich darin, nach und nach richtet sich dieses, eingehüllt in eine Plastikfolie, auf. Das Wesen entpuppt sich, als es sich von seiner Folie befreit hat, als Mensch, genauer als Mann. Dazu sind rhythmische Klänge, gemischt mit Naturlauten wie Regen und Donner zu hören, die in ihrer Lautstärke an den Urschrei erinnern. Seine linke Hand hat über die Finger lange Zweige, die er später bei der Verwandlung eines Naturwesens in einen menschlichen Körper abbeißt. Unbeholfen zunächst bewegt er sich leicht tänzerisch durch den Raum, mit zuckenden Bewegungen. Das Licht wechselt von Grün in Blau. Rhythmische Herztöne sind zu hören und der bis auf seine Blöße nackte Mann entdeckt eine der Stangen, die im Hügel stecken.

So beginnt „Mandragora“ von Jan Jedenak in der Regie des schottischen Meisters des Physical Theatre, Al Seed. „Mandragora“ heißt eine Mittelmeerpflanze, die im deutschen „Alraune“ genannt wird. Ihr werden zauberische Kräfte zugeschrieben, denn ihre Wurzel erinnert an eine menschliche Gestalt. Im antiken Griechenland war die Pflanze der Göttin Aphrodite geweiht, im Mittelalter diente sie als Hexenflugsalbe. In ihrer toxischen, wie halluzinogen Wirkungen war sie fester Bestandteil von magischen Ritualen. Schon mit den Anfangssequenzen, zumal das Spiel von Jedenak immer in Beziehung zum Licht (Nadja Weber) und zu der musikalisch strukturierten Toncollage (herausragend Julian Siffert) bleibt, wird in dieser Inszenierung eine Magie entwickelt, der ich mich als Zuschauer nicht entziehen kann: Alraunenhaft wechselt der Performer von einer „pflanzlichen“ Abstraktion in die humane Sphäre. Ein Mensch erscheint in einer Welt, die fremd ist und Angst macht.

Foto: Heinrich Hesse

So bewegt er sich nun teils tänzerisch, teils mit ruckartigen Zuckungen, die den ganzen Körper ergreifen, durch den Raum immer nahe beim Hügel. Zitternd stellt er die Stange auf, erklimmt sie, schaut in die Welt, rutscht ab, liegt wieder am Boden. Nach einer langen Stroboskop-Szene, die durch tänzerische Elemente geprägt wird, steht das Spiel mit den Stangen im Zentrum. Anlehnend an Methoden des Chinese Pole und solcher des alten und des neuen Zirkus entsteht ein akrobatisches Spiel, er bewegt sich nun „laufend“ zwischen zwei Stäben, hängt kopfüber an der Stange. Wenn Jedenak eine dritte Stange mit daran hängender Schlaufe in der Luft als Querstange befestigt, zieht sich das Licht immer mehr ein, wird violett, hängt er wie ein Ecce Homo an der Stange. Am Schluss dann zieht er ein Bein durch die Schlaufe und lässt sich kopfüber fallen.

Jan Jedenak ist ein Figurenspieler, der in seinen Produktionen sich und sein Publikum fordert. Er testet dabei seine Grenzen aus, um sie zu überwinden. Er nutzt in „Mandragora“ die Potenziale des „wilden“ mythischen Denkens, der Bewegungskreativität des Physical Theatre, des Modern Dance und der physischen Kraft der Stangenakrobatik. Sein Körper wird dabei zu einer Projektionsfläche, in der sich in der Geschichte eines humanen Wesens die ganze Menschheitsgeschichte widerspiegelt. Die Nähte des Puppenkörpers sind in seinem eingeschrieben. Er erfindet in seiner Körpersprache, deren Narrativ von der Bewegung formiert wird, eindrucksvolle Bilder für die Absurdität der menschlichen Existenz, von seinem Eingebundensein in den Urschleim über seine (scheinbare) Befreiung bis hin zum Scheitern. Mit Camus wird auch hier das Schicksal des Sisyphos beschworen, dem immer kurz vor dem Ziel die Kugel wieder wegrollt und der dann von vorne beginnen muss. Für Jan Jedenak war wichtig dabei künstlerische Formen zu finden, die sich mit der „Diskriminierung und Gewalterfahrung“ (Ankündigungstext) von Homosexualität auseinandersetzen. Es ist mehr geworden, weil die Diskriminierungen im mythischen Kontext von „Mandragora“ universal sind. Diese fremde Geworfenheit in die Welt, in und an der man scheitern muss, wird zum bedrängenden Bild.

Wenn eine Inszenierung schon im „online“-Modus eine so starke Wirkung hat, wie muss sie dann erst live auf der Bühne wirken!

 

Premiere (Online): 23.04.2021

Konzept und Spiel: Jan Jedenak

Regie: Al Seed

Musik: Julian Siffert

Dramaturgie: Jonas Klinkenberg

Ausstattung & Bau: Heinrich Hesse, Jan Jedenak

Licht: Nadja Weber

Akrobatik Coaching: Andrew Scordilis

Outside Eye: Li Kemme

Fotos: Heinrich Hesse

Eine Produktion von Jan Jedenak in Koproduktion mit dem FITZ Stuttgart – Theater animierter Formen und der Studiobühne Köln in Kooperation mit Kunstverein Wagenhalle.

Gefördert vom Kulturamt der Stadt Stuttgart, LaFT Baden-Württemberg und dem Fonds Darstellende Künste im Rahmen von NEUSTART KULTUR

0 Kommentare

Neuer Kommentar