Die aktuelle Kritik

Figurentheater Chemnitz: „Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor“

Von Andreas Herrmann

Gundula Hoffmann schafft in Chemnitz eine mehrdimensionale Flucht vor dem Krieg über die Grenze – von Vater zur Mutter.

Der seltsame Titel erschließt sich am Anfang rasend schnell und verheißt nichts Gutes: Denn „Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor“ führt recht rasch in die Fluchtgeschichte eines kleinen, blonden Mädchens über die Grenze – von Vater über Oma zur Mutter. Denn plötzlich ist im Süden des fiktiven Landes Krieg, der Papa ist Bäcker einer Kleinstadt und verkauft nichts mehr. Die kleine Toda lebt bei ihm und isst gern seinen Restkuchen, aber 20 Sorten sind am Vorabend dann doch zu viel.

Dann muss der Vater zur Armee und der Backofen bleibt kalt, gemeinsam lesen sie noch sein Handbuch für den gemeinen Soldaten – vor allem die Tarnung spielen sie durch: Ein Baum oder ein Busch helfen, um vielleicht unentdeckt und somit heil wieder heimzukommen. Derweil muss die Oma auf Haus wie Enkel aufpassen, doch der Krieg kommt rasch näher – Toda muss fliehen: zur fast unbekannten Mama ins Nachbarland. Die Oma besorgt die Schleusung als eine Art Evakuierung, die zu einem durchaus witzigen, aber doch (vor allem für Eltern) herzzerreißenden Road Movie wird: Der Schleuser beutet sie restlos aus, ein Ex-General bewacht in einem Schloss die Grenze und exerziert samt Frau, die sich einen Betreuungsenkel wünscht, die Lebensweltfremdheit des Militärs. Ein weicher Hauptmann flieht wie sie durch den Grenzwald – sie üben gemeinsam echtes Kommandieren, doch er wird erwischt.

Schließlich landet sie in einer fremden Stadt mit fremder Sprache und durchaus großem Misstrauen gegen Fremde, so dass neben dem Vater als Frontbusch auch noch ihr Name abhanden und sie in eine Art Kinderheim für unbegleitete Minderjährige kommt. Doch durch Güte wie Zufall kommt sie dann doch zur Mutter – und auch der Vater taucht, zumindest per Brief, wieder auf ...

Joke van Leeuwen, Den Haagerin des Jahrgangs 1952, schuf diese sympathische wie dramatische Antikriegsgeschichte als illustrierten Kinderroman – und das in der für Zeitlosigkeit nötigen Abstraktion: Unpatriotisch-neutral als Kampf der Einen gegen die Anderen, wobei an einem Tag einfach die Heimat und das bisherige Leben flöten kann – und zwar konsequent aus Kindersicht – in eine nahe, aber unvorstellbare Welt. Denn: „Draußen tat die Sonne so, als ob es uns gutging.“

Drei Spieler meistern dies in etlichen Konstellationen mit allen Nebenschauplätzen. Meist in Schwarz mit Kapuze unsichtbar, vorn die Figuren. Manchmal auch nur große weiße Gesichter und, im Hintergrund, diverse Animationen, die vor allem die Reise und den Wald illustrieren. Das wirkt so perfekt, als wäre es ein Film. Die souveräne Wandelfähigkeit von Claudia Acker als Erfahrenster sind mittlerweile bekannt, Matthias Redekop, ganz frisch in Chemnitz, hat hier diverse Frauen- und Männerrollen und bewältigt sein Debüt auch stimmlich hervorragend, während sich Karoline Hoffmann fulminant ganzheitlich der frechen, blauäugige Göre mit hochgekrempelten Jeans und roten Schuhen widmet, die immer im Mittelpunkt der Szenerie steht. 

 

Das passende Stück zur perfekten Stunde

Regisseurin Gundula Hoffmann, seit 2014/15 Chefin des Chemnitzer Figurentheaters, nimmt sich die „Geschichte einer Reise“ (so der Untertitel) von Joke van Leeuwen in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers als Vorlage für eine einstündige Version in eigener Fassung, für die die Studiobühne im Schauspielhaus als Heimstätte des Figurentheaters, fast schon zu groß wirkt. Denn das Spiel der filigranen Puppen von Barbara Weinhold, die vor allem mit charismatischen Gesichtern und perfekten Kostümen auffallen, sollte man ganz aus der Nähe betrachten.

Das geht hier nur in den ersten fünf bis sechs Reihen gut, dann aber richtig. Wer zudem das Glück hat, einer Aufführung beizuwohnen, in der die Pädagogen der Schulklassen die Weisheit besitzen, anschließend eine Fragestunde dazu zu buchen, erfährt noch viel mehr: Ob Puppenspieler ein echter Beruf oder mehr Berufung ist (ja), ob man da gut verdient (nein: 2.100 Euro brutto als Einstiegsgehalt), oder unterschätzen, was so eine Puppe wert ist (rund 2.000 Euro) und wie sie schlafen (im Sack). Und darf hernach die edlen Figuren mal streicheln und hinter den Kulissen sehen, dass wirklich – inklusive der Animationen auf drei Leinwänden – alles, unter anderem per Polylux, live von den drei Spielern fabriziert wird.

Aber auch, was Kinder – hier vermutlich zehn Jahre – von der Geschichte, von Krieg von Flucht plus Emi- sowie Immigration (so viel Zeit für Differenzierung muss sein) wissen. Und erfährt per Meinungsäußerung mehr über die Vorprägung von Elternhaus wie Schule – mitsamt Literatur- und Theaterbildung. Hier wäre der Ansatz für echte politische Aufklärung (ohne richtungsweisende Vorzeichen, also Propaganda). Das war erstmals an jenem 9. Oktober der Fall, als es zeitgleich zur Aufführung der Türkei beliebte, die syrische Grenze mit Panzern zu überfahren. Hier hatten Schüler wie Lehrer noch die Gnade der frühen Schulstunde ohne die akute Nachrichtenlage zum neutralen Genuss – aber es gebar sicher bei der Reflektion eine neue Nachhaltigkeit des Geschehens.

Insofern ist diese feine Arbeit, neben der gediegenen Kunst, ein wichtiges Stück zur perfekten Zeit, auch wenn man hier die historischen wie regionalen Bezüge samt eingeführter Kunstsprache eher im Grenzgebiet zwischen Flandern, Holland und Frankreich vor achtzig Jahren vermuten könnte. Allein die Altersempfehlung von sechs Jahren scheint zu niedrig angesetzt.

 

 

 

 

Premiere: 05.10.2019

Foto: Nasser Hashemi

„Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor“
Geschichte einer Reise von Joke van Leeuwen
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Bühnenfassung von Gundula Hoffmann

Regie: Gundula Hoffmann
Dramaturgie: René Schmidt
Es spielen: Claudia Acker, Karoline Hoffmann und Matthias Redekop

Netzinfos: www.theater-chemnitz.de

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