Theater Waidspeicher, Erfurt: "Tierische Briefe"
20. September 2024
Das Tier in dir und mir: Es lebt, es schlummert nur. Frank Soehnle vom „figuren theater tübingen“ küsste es wach und kitzelte es aus seinen Spielern heraus, als er 2019 am Theater Waidspeicher metaphorisch und metamorphisch „Animalisten“ in Szene setzte: ein wortloser, aber vielsagender und sehr musikalischer Abend als „skurril-theatralische Versuchsanordnung“, die sich zum aberwitzigen Varieté mauserte: fünf Menschen mit Hummeln im Hintern und Schmetterlingen im Bauch spielten sich mit Puppen und Objekten einen Wolf und mutierten zu animalischen Wesen.
Exakt fünf Jahre später (wieder an einem Freitag, den 13.) kam nun in Erfurt eine neue Inszenierung Soehnles heraus, die das Menschliche ebenfalls mit dem Tierischen konfrontiert, diesmal nicht in der Vermischung, sondern in der Spiegelung. „Tierische Briefe“ für Leute ab vierzehn basiert auf einem Kinderbuch: Toon Tellegens „Briefe vom Eichhorn an die Ameise“ von 2001, jüngst neu aufgelegt.
Darin lädt zum Beispiel ein Elefant postalisch eine Schnecke ein, mit ihm zu tanzen, und zwar ganz vorsichtig, auf ihrem Haus. Gerne später mal, erwidert die Schnecke. Eine Ameise schreibt ans Eichhorn, sie werde auf Nimmerwiedersehen verschwinden, und bleibt; eine Grille ist dann mal weg, aber bald wieder da. Ein Bär wünscht sich, auf Eichhorns Geburtstag die große Torte ganz alleine aufessen zu können, die Blattlaus schämt sich ihrer selbst und bittet das verehrte Eichhorn, sie keinesfalls zu besuchen. Der Maulwurf hingegen richtet mangels Alternativen Briefe an sich selbst und lädt sich darin zu sich ein: jederzeit willkommen zu großen dunklen Festen ohne jegliches Licht.
"Tierische Briefe": (v.l.n.r.) Thomas Mielentz, Svea Schiedung, Paul S. Kemner, Melissa Stock © Lutz Edelhoff
Das sind lauter Miniaturen, lauter Episödchen über die Verlorenheit des einzelnen in der Welt, über die Suche nach Nähe und Verbindung; das spricht von Bedürfnissen und Bedarfen, von Hemmnissen und Hemmungen. Die innere Distanz zu sich selbst, der Glaube, besser und anders sein zu müssen, als man ist, wird zur Barriere, die Briefe überwinden: Kurznachrichten zumeist, die der Wind zustellt.
Entsprechend flattern und segeln Briefe aus dem Bühnenhimmel herab, landen auf und hinterm breiten Holzverschlag mit Klappen und Laden, der, derweil knorrige Äste im Hintergrund hängen und ein Seilzug zum Einsatz kommt, zum Spieltisch taugt. Dahinter vier Spieler, die auf- und abtauchen: Melissa Stock und Tomas Mielentz sowie, als Waidspeicher-Debütanten, Paul S. Kemner neu im Ensemble und Svea Schiedung als Gast. In schwarzen Kostümen mit lokalem Paillettenbesatz, der hier oder dort metallisch-blaugrün schimmert wie ein Käferrücken, animieren und aktivieren sie vierzehn Puppen solistisch oder zusammen, je nach Führungstechnik, die in breiter Palette abgebildet wird.
Sie sind Spieler und Erzähler sowie, das entspricht einer offenen Spielweise im Waidspeicher, die über bloße Sichtbarkeit hinausgeht, auch Darsteller. Als solche bleiben sie allerdings einigermaßen unkenntlich. Die Form des Buches und erst recht jene der Aufführung verlangte nach einer Art Rahmung, einer erzählerischen Verknüpfung auch, die sie allerdings schuldig bleiben. Wie sich Mensch und Puppentier begegnen, funktioniert unterm Strich mehr nach technischen als organischen Aspekten.
"Tierische Briefe": (v.l.n.r.) Melissa Stock, Paul S. Kemner, Thomas Mielentz © Lutz Edelhoff
Es gibt aber gegenläufige Ansätze: die winzige Schnecke (später kehrt sie deutlich größer zurück), die der Spielerin ins Ohr flüstert, die Ameise, die übern Spielerkörper krabbelt, Spielers Blick in Maulwurfs Unterwelt. Es läuft dann aber doch auf eine mehr oder weniger lose verbundene Nummernfolge hinaus, dazu angetan, die sehenswerten, mit menschlichen Accessoires ausgestatteten Puppen von Soehnle und Kathrin Sellin formvollendet zu präsentieren und ins heiter-melancholische Szenchen zu setzen: in Anmutung und Größenverhältnis durchaus nicht streng an Brehms Tierleben orientiert. Nur eine davon, Frau Sperling, vermag tatsächlich den Schnabel aufzureißen, derweil der Bär die vermenschlichste Figur annimmt: mehr Männlein als Meister Petz.
Ihre größte Verwandtschaft zu den „Animalisten“ zeigen die „Tierischen Briefe“ in ihrer Musikalität, im direkten wie übertragenen Sinne. Die Aufführung verfügt insgesamt über Rhythmus, einzelne Szenen auch, etwa mit Geschirr und Besteck sowie Bierflasche mit Bügelverschluss als Instrumenten, indes auch Steeldrum, Melodica und Mandoline eigenwillig erklingen. Dazu Sprechgesang nach Texten Tellegens nicht aus seinen „Briefen“, sondern aus seiner „Ich sollte“-Sammlung zu Bildern Ingrid Godons: „Ich sollte meine Grenzen kennen. Ich seeeeh‘ sie nicht“, singt also der Elefant, der ständig aus Baumwipfeln stürzt. „Ich soll Ja zum Leben sagen“, singt der Maulwurf und denkt sich: „Soll das Leben doch irgendetwas zu mir sagen. Aber das Leben sagt nie etwas.“
Dergleichen trifft auf diese Aufführung nicht zu: Sie sagt etwas. Sie spricht, und zwar mit poetisch-satirischem Grundton, vom Zu-sich-Kommen und Über-sich-Hinauswachsen. Und zumindest ersteres erreicht sie auch selbst ziemlich zuverlässig.
Theater Waidspeicher, Erfurt: "Tierische Briefe"
nach „Briefe vom Eichhorn an die Ameise“ von Toon Tellegen, aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler, in einer Spielfassung von Frank Soehnle
Regie und Bühne: Frank Soehnle | Kostüme: Mila van Daag | Puppen: Kathrin Sellin und Frank Soehnle | Komposition und Sound: Johannes Frisch | Dramaturgie: Sonja Keßner | Maske: Nadine Wottke | Regiehospitanz: Annalena-Madita Scheika und Franziska Heimbrodt | Es spielen: Svea Schiedung, Melissa Stock, Paul S. Kemner, Tomas Mielentz
Premiere: 13. September 2024
Ab 14 Jahren
Dauer: 60 Minuten
Spieltermine auf der Website vom Theater Waidspeicher