Die aktuelle Kritik

Sarah Chaudon & Florian Feisel, Stuttgart: "Unwucht"

Von Brigitte Jähnigen

Ein Spiel aus Leichtsinn und Schwerkraft haben Sarah Chaudon und Florian Feisel in einem Stuttgarter Kirchenraum präsentiert. „Unwucht“ kann verstanden werden als eine Inszenierung von Lust und Last des Daseins und seiner ewigen Wiederkehr.

Wie ein Schwarm Glühwürmchen bewegt sich der Publikumsstrom vom Figurentheater Fitz im Stuttgarter Tagblattturm zu St. Maria. Vorbei an Stadtflaneur*innen, Obdachlosen, Skater*innen und einer Polizeistreife. Aus grün leuchtenden Kopfhörern wird die Geschichte von den einst beerdigten Fingern eines Großvaters erzählt. Unharmonische Orgelmusik begleitet das Erzählen. Vor zwei Jahren haben die Figurenspieler*innen Sarah Chaudon und Florian Feisel autobiografische Erfahrungen in eine Inszenierung gebracht. Darin wurden Streichholzschachteln symbolisch anstelle von Körperteilen „beerdigt“. Denn die fehlenden Finger des Großvaters sorgten für permanente Irritation bei den Enkeln. Allerdings ist das Vergraben und Vergessen von Objekten, Gedanken und Gefühlen nicht so einfach. Aus den Kopfhörern ist zu vernehmen: „Sachen wiederholen sich/Und Kreise schließen sich“ sowie „Alle Worte kommen aus der Vergangenheit“. Dieser Erkenntnis folgend, entstand eine neue Inszenierung mit dem Titel „Unwucht“. Doch wie hängt das physikalische Phänomen der Unwucht – die unsymmetrische Verteilung der Massen eines rotierenden Körpers – mit der theatralen Umsetzung durch das Künstlerduo zusammen?

Sarah Chaudon und Florian Feisel erwarten ihr Publikum vor dem Kirchenportal, bemalen ihre Körper und Gesichter mit weißer Farbe. Jetzt wirken sie wie eine Mischung aus Clown und Skelett. Das Halbdunkel des ausgeräumten Kirchenschiffes gibt den Blick auf vier „ramponierte Sportgeräte“ (Programmtext) frei. Eines ist menschenhoch, die anderen abgestuft kleiner. Die Besitznahme durch die beiden Protagonist*innen beginnt. Von zwei Lichtquellen erhellt, rollen Chaudon und Feisel die Rhönräder lange Sequenzen über den ausgelegten Theaterboden, lassen die „Unwucht“ der Geräte durch leises Grollen und Sirren hören, bringen sie - manchmal haarscharf aneinander vorbei – in immer neue Formationen. In ihrem waghalsigen Agieren durchsteigen sie die Räder, erklimmen sie. In ruheloser Balance, leichten Sinnes und mithilfe der Gravitation erregt die von Menschenhand bewegte Installation beim Publikum eine nicht nachlassende Aufmerksamkeit, weckt assoziative Gedanken über das Sinnbild des Lebens als Balanceakt. Wiederkehrende Lust und Last, Kreislauf menschlicher Existenz. Räder, von Menschenhand bewegt, sind wie geschaffen, den Umgang mit der Zeit zu symbolisieren. Drehen sich Räder langsam, scheint die Welt harmonisch. Drehen sie sich immer schneller, kommt der Mensch in Atemnot, verwirbelt sich seine Existenz. Wunderbar mischt sich in der Stuttgarter Kirche das Uhrwerk im Glockenturm als Metapher für die Vergänglichkeit der Zeit ein. Das Publikum hört und schweigt.

Tatsächlich kommt die einstündige Objektperformance ohne Sprache aus. Sprache wird ersetzt durch Töne, Geräusche, das Atmen von Künstler*innen und Publikum, durch Bewegung, durch Fermaten. Und diese Choreografie ist auch ein Spiel mit Licht und Schatten, in dem die Spieler*innen und Rhönräder bis ins Kreuzrippengewölbe hochwachsen und sich das Altarkreuz wie von magischer Hand bewegt. Das geräumige Kirchenschiff als Spielort ermöglicht der Inszenierung Platz für das ungewöhnliche Experimentieren mit großen Objekten. Und ist zugleich traditionell ein Ort, an dem spirituelle Vorstellungen gelebt wurden und werden. „Unwucht“ kommt poetisch daher, wirkt manchmal auch zirzensisch, aber immer meditativ.

Irgendwann werden die hölzernen Räder durch Seile verbunden. Das Licht auf die Seile gerichtet, folgen die Akteur*innen einer sich verändernden Leuchtspur. Rad und Mensch vereinen sich in einem verbundenen System zu einer Skulptur. „Gravitationspoesie“ nennen Sarah Chaudon und Florian Feisel, die auch die Entwicklung und Konzeption des Stückes verantworten, ihre Performance. Doch wie das Leben so spielt: Der Bruch kommt abrupt. Mit lautem Getöse rollen Chaudon und Feisel auf Rollbrettern durch den Raum. Später wuchten sie die Rhönräder auf die Bretter, bewegen sie erneut mit ihrer Körperkraft. Radiomusik ertönt, Feisel greift zum Akkuschrauber, löst Bretter aus den Rädern, die Seile werden aufgewickelt, die Inszenierung drängt zum Finale. Ein gelöstes Brett wird in einem der Räder verklemmt, der Werkzeugkasten an einem Ende abgestellt und solange justiert, bis er auf dem durchgebogenen Brett zur Balance kommt. Das wirkt nach aller Sinnlichkeit irgendwie komisch, und der zuschauende Teil dieses Premierenabends fragt sich: Welches Geheimnis verbirgt sich im Werkzeugkasten? Ist das schon der Beginn einer nächsten Inszenierung?

 

Premiere: 5. November 2021

Spiel & Entwicklung & Bau: Sarah Chaudon & Florian Feisel

Konzept & Bühne: Florian Feisel

Auge am Ende: Markus Joss

Klangberatung: Charlotte Wilde

Fotos: Joachim Fleischer

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