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Der beste Wahnsinn

Von Sara Hötter

„Touch! Don’t touch! Touch! Don’t touch!”, streiten die besitzerlosen Stimmen in LOCO, konzipiert und unter der Anleitung von Tita Iacobelli und Natacha Belova. Einem jeden ist klar, etwas stimmt nicht mit Poprischtschin, etwas ist falsch. Doch zu diesem Zeitpunkt nimmt die Reise des Wahnsinns erst ihren Anfang und sie geht bis nach Spanien und sogar bis zum Mond und wieder zurück … zumindest in Poprischtschins Vorstellungen.

Bereits vor dem eigentlichen Beginn des Stücks wird die Atmosphäre deutlich: Düster und kalt, angsteinflößend und ungewiss. Der Saal, in den das Publikum eingeführt wird, erscheint alles andere als prachtvoll, eher alt und verlassen. Gelegentliche Streichereinsätze, die an die Musik eines Horror- oder Thriller-Films erinnern, setzen dem leicht unbehaglichen Gefühl noch zu. Der Beginn des Stücks verstärkt dieses Gefühl umso mehr. Zwei Frauen sitzen auf einem Bett, ihre Gesichter nicht zu erkennen, und es ist von ihnen nur ein undeutliches Flüstern und leichtes Kichern zu vernehmen. Die Dunkelheit, die den Raum umgibt, verstärkt die mysteriöse Atmosphäre zusätzlich.

Kurz darauf kommt der Hauptcharakter und somit auch der einzige sichtbare Charakter des Stücks zum Vorschein: Poprischtschin, verkörpert und gespielt von Marta Pereira und Tita Iacobelli. Sein Auftreten wirkt zunächst unscheinbar, doch schon bald entfaltet sich seine komplexe Persönlichkeit vor den Augen des Publikums.

Poprischtschin stellt sich zunächst vor: Er ist Kopierer und arbeitet für den Bürgermeister. Immer wieder wird deutlich, wie sehr er den Bürgermeister bewundert. Der Bürgermeister ist nämlich bedeutend. Dies macht Poprischtschin daran fest, dass der Bürgermeister nach Dingen wie dem Wetter fragt. „Extraordinär“ bezeichnet Poprischtschin diese Art von Frage. Extraordinär, wie besondere Menschen, wie der Bürgermeister, ihre Angestellten nach dem Wetter fragen, anstatt selbst nachzuschauen. Diese Bewunderung für den Bürgermeister durchzieht das gesamte Stück und prägt Poprischtschins Verhalten und Gedankenwelt.

Doch unser Hauptcharakter bewundert nicht alle, die eine Machtposition innehaben. Seiner Chefin gegenüber verspürt er eine tiefe Abneigung. Und das wird im Verlauf des Stücks immer deutlicher: Ihre Stimme ertönt immerzu in Poprischtschins Kopf und verhöhnt ihn, sagt ihm, dass er nie etwas erreichen kann, und lässt ihn seinen Glauben an sich selbst verlieren.

Die Welt wäre für Poprischtschin eigentlich trostlos. Doch da ist ein Hoffnungsschimmer: Sophie, die Tochter des Bürgermeisters, ist für Poprischtschin wie ein Engel auf Erden. Er beschreibt die Sanftheit ihrer Stimme, ihre Schönheit und vor allem ihre Art, ihn kaum wahrzunehmen. Doch das ist für ihn okay, denn sie ist die Tochter des Bürgermeisters, und genau wie dieser ist sie besonders, sie ist extraordinär. Sophie verkörpert für Poprischtschin das Ideal der Schönheit und Reinheit, das er sich sehnsüchtig wünscht und das ihm in seinem trostlosen Leben Hoffnung gibt. In seinen Vorstellungen geht er seinem Verlangen nach. Er fantasiert darüber mutig zu sein und Sophie endlich seine Liebe zu gestehen. Doch das passiert im echten Leben nicht. Im echten Leben betritt Sophie das Büro ihres Vaters, nimmt Poprischtschin, welcher dort Bleistifte anspitzt, kaum wahr und fragt irgendwann, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen, nach dem Aufenthaltsort des Bürgermeisters.

Doch das ist mehr als genug für Poprischtschin, denn sie, ja sie, redet mit ihm. Während in seinem Kopf schon die Hochzeitsglocken klingen, zerstören seine Wahnvorstellungen seine Euphorie. Denn er fängt an, Briefe zu lesen, Briefe, die davon berichten, dass Sophie ihr Herz jemand anderem geschenkt hat, jemand Besseren als ihn… Briefe, die von Sophies Hund geschrieben worden. Diese Enthüllung trifft Poprischtschin tief und wirft ihn in ein Meer aus Verzweiflung und Selbstzweifeln.

 

Auch die Stimmen helfen ihm keineswegs, denn entweder verleiten sie ihn dazu, in seiner eigenen Gedankenwelt weiter zu verschwinden, oder sie kommen in Gestalt seiner bösartigen Chefin zum Vorschein und machen ihn nieder. In einer Szene kommt das sogar so weit, dass sie ihn sich wie Müll fühlen lässt, wortwörtlich. Poprischtschin hat nämlich ein nahezu fanatisches Interesse an Zeitungsartikeln, welche er in seinem Aktenkoffer aufbewahrt. Und genau durch diese Zeitungsfetzen wird der Kopf der Puppe ersetzt. Diese Szene ist ein verstörendes Abbild von Poprischtschins zunehmendem Verlust der Realität.

Ein unangenehmes und leicht verstörendes Bild, wie der Hauptcharakter, mit dem man immer mehr Mitleid empfindet, wortwörtlich seinen Kopf gegen einen Müllballen eintauschen muss. Erst später kommt Poprischtschin wieder zu seinem Kopf zurück, doch was in diesem drin ist, ist noch verstörender. Seine Gedanken sind düster und gewaltvoll geworden, seine ehemalige Bewunderung gegenüber dem Bürgermeister schwindet immer mehr dahin. Poprischtschin wird von Selbstzweifeln und Paranoia geplagt, während seine Realität immer mehr in Fragmente zerfällt.

Was ist, wenn der Bürgermeister doch nicht so besonders, doch nicht so extraordinär ist? Was ist, wenn Poprischtschin eigentlich viel besonderer ist? Was wenn… Poprischtschin der König von Spanien ist? Diese Gedanken zeigen Poprischtschins fortschreitenden Verlust der Realität und seine Flucht in eine Fantasiewelt, um seiner eigenen Unsicherheit zu entkommen.

Und genau hier kommt es zum Akt des absoluten Tiefpunktes. Poprischtschin ist sich absolut sicher: Er ist der verlorene König Spaniens, und mit einer selbst gebastelten Krone aus Papier präsentiert er sich auf dem Bett, spricht seinem ‚Volk‘ zu und verkündet die freudige Botschaft, dass der König endlich zurückgekehrt sei, und kein Grund zur Sorge bestehe. Diese Szene markiert den Höhepunkt von Poprischtschins Wahnvorstellungen und zeigt seine vollständige Abkopplung von der Realität.

Doch seine Wahnvorstellungen spitzen sich weiter zu, und Poprischtschin ist sich sicher: der Mond fällt auf die Erde. Und in seinen Vorstellungen passiert das wirklich. Ein aus Papierschnipseln bestehender Ball rollt plötzlich auf die Bühne. Doch Gott sei Dank, hört alles auf Poprischtschin, so auch der ‚Mond‘. Er befiehlt ihm, stehen zu bleiben, zu rollen, nach rechts, nach links, nach vorne, nach hinten, stopp. Und dann lässt er den Mond fliegen. All das kann Poprischtschin. Zumindest bis seine ‚Untertanen‘ ihn in sein Bett bringen und dort auch festbinden.

Das Stück endet damit, und die grandiose Leistung der beiden Puppenspielerinnen lässt das Publikum mit lautem Applaus antworten. Diese fesselnde und tiefgründige Darstellung einer zerrütteten Psyche hinterlässt beim Publikum einen nachhaltigen Eindruck und regt zum Nachdenken über die Natur der Realität und des Wahnsinns an. Poprischtschins tragische Geschichte, die brillant von Marta Pereira und Tita lacobelli inszeniert wurde, bleibt lange im Gedächtnis und öffnet einen intensiven Diskurs über die mentale Gesundheit sowie die Grenzen der Wahrnehmung.

 

Obwohl LOCO ein fabelhaftes Stück ist, das jeden in seinen Bann zieht, zeichnet es sich durch eine bemerkenswerte Komplexität aus. Zunächst ist festzuhalten, dass die Aufführung ausschließlich auf Französisch stattfindet und nur ins Englische übersetzt wird. Diese Sprachbarriere stellt für das Publikum eine zusätzliche Herausforderung dar, da sie die subtilen Nuancen des geistigen Zustands des Protagonisten, Poprischtschin, erschwert zu erfassen.

Die Komplexität von Poprischtschins geistigem Zustand wird bereits zu Beginn des Stücks deutlich. Seine Wahnvorstellungen und Halluzinationen werden durch die Verschmelzung von Realität und Erinnerungen dargestellt, was die Grenzen zwischen Fiktion und Realität weiter verschwimmen lässt. Dies erzeugt eine einzigartige Atmosphäre, die das Publikum einerseits fasziniert und andererseits verwirrt zurücklässt. Die Zuschauer*innen müssen aufmerksam sein und die verschiedenen Ebenen der Erzählung durchdringen, um die volle Tiefe des Stücks zu verstehen. Erst gegen Ende wird deutlich, dass Poprischtschin sich bereits in einer psychiatrischen Anstalt befindet und dass die vorangegangenen Ereignisse nur seiner verstörten Wahrnehmung entsprachen.

Trotz einiger kurzer humorvoller Momente, die das Publikum zum Lachen bringen können, ist die Stimmung des Stücks insgesamt düster und unangenehm. Die Darstellung der Schizophrenie ist erschreckend realistisch und bietet einen tiefen Einblick in die zerrüttete Psyche des Protagonisten. Die Puppenspielerinnen Marta Pereira und Tita Iacobelli leisten eine herausragende Arbeit. Ihre Synchronität und Präzision bei der Manipulation der Puppe lassen das Publikum tief in die Psyche des Protagonisten eintauchen und machen die Illusion nahezu perfekt. Ihre darstellerische Leistung vermittelt nicht nur die emotionale Tiefe des Charakters, sondern auch die körperlichen und geistigen Anstrengungen, die mit einer solchen Rolle verbunden sind.

LOCO eignet sich für diejenigen, die dem tristen Alltag entfliehen und in eine völlig neue Welt eintauchen möchten – nämlich in die Welt von Poprischtschin. Das Stück bietet eine Flucht in eine andere Realität, eine Reise in die verworrene und faszinierende Gedankenwelt eines Mannes, der zwischen Wahn und Wirklichkeit gefangen ist. Doch trotz der Freigabe ab 14 Jahren ist das Stück möglicherweise nicht für diese Altersgruppe geeignet. Die Sprachbarrieren und die komplexen Themen des Stücks machen es eher für Zuschauer*innen ab 16 Jahren angemessen. Die jungen Zuschauer*innen könnten Schwierigkeiten haben, die tiefgründigen und oft verstörenden Inhalte vollständig zu erfassen und zu verarbeiten. Allen anderen sei jedoch ein herzliches Willkommen zu diesem fabelhaften Stück ausgesprochen, in dem sie teilhaben können an dem faszinierenden Wahnsinn, den Tita Iacobelli und Natacha Belova zu bieten haben.

Das Stück fordert das Publikum nicht nur emotional, sondern auch intellektuell heraus. Es verlangt von den Zuschauer*innen eine gewisse Bereitschaft, sich auf die ungewöhnliche Erzählweise und die tiefgründigen Themen einzulassen. Diese Kombination aus emotionaler Intensität und intellektueller Herausforderung macht LOCO zu einem unvergesslichen Erlebnis, das noch lange nach dem Verlassen des Theaters nachhält.

 

Foto: Pierre-Yves Jortay

 

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