half past selber schuld: The Last Mortal
„Wonderland Incorporated“ ist es gelungen: Der Konzern hat nahezu alle Probleme der Welt gelöst. Der Mensch wurde genetisch optimiert, der Alterungsprozess endet mit dem dreißigsten Lebensjahr, der Tod ist abgeschafft. Big Data organisiert alle Abläufe des Lebens, Krankheiten werden durch Nano-Bots bekämpft, mit Terraforming wurde der Klimawandel gestoppt und grenzenlose Unterhaltung bietet die Virtual Reality. Im neuen Bühnencomic – dem ersten auf Englisch, der bei der Uraufführung im FFT Düsseldorf dann doch noch teilweise untertitelt und auf Deutsch ist – entwirft das Kollektiv um das deutsch-israelische Künsterduo „half past selber schuld“ eine perfekte Zukunft.
Der Struktur nach kommt der gut sechzigminütige Abend als Dauerwerbungssendung – unterbrochen von kurzen Nachrichtenblöcken – daher. Der Nachrichtensprecher Johnny Cashmere transportiert die titelgebende Geschichte vom letzten Sterblichen. Als nämlich Wonderland Incorporated den Tod abgeschafft hat, startet eine große Show um die letzten Normalsterblichen. Wer am längsten überlebt, ist Sieger. Wird es zu Mordanschlägen unter den Kandidaten kommen? Wetten werden abgeschlossen. Schließlich kommen alle gleichzeitig bei einem Terroranschlag ums Leben, aber noch hofft die Jury, dass ermittelt werden kann, wer der Sieger ist. Da geht es nur um Nanosekunden.
Den größeren Raum des Stückes nehmen die Lobpreisungen der technischen Errungenschaften von Wonderland Incorporated ein. Highlight: drei auf einem Nervenzellengeflecht tanzende Nano-Bots, die zu einem fröhlichen Song Krebszellen vernichten und Alkoholmoleküle in einen guten und schlechten Teil trennen. Vorbeikommende Vitamine werden als dienlich identifiziert und tanzen kurz mit. Das ist ausgesprochen possierlich als schwarzes Theater umgesetzt. Auch ganz reizend sind drei Methan furzende Kühe in einem Puppentheater, deren klimaschädliche Ausdünstungen sogleich vom Terraformer weggesaugt werden.
„half past selber schuld“ beeindrucken mit einer technisch perfekten Umsetzung. Mal wird Schattenspiel mit Video kombiniert, dann Puppen mit schwarzem Theater und Masken, immer sind vorproduzierte Soundspur und Bühnengeschehen perfekt synchron. Die Präzision dieses Zusammenspiels ist absolut überragend.
Nicht immer so überzeugend ist die Erzählung. Die Szene über die Verheißungen der Virtual Reality gerät etwas lang und wenig erhellend. Da daten Mann und Frau im virtuellen Raum, flirten in der virtuellen Disco, lassen ihre Häschen- und Mäuschen-Avatare zusammen über die Wiese hüpfen und wechseln nahtlos in ein Killerspiel. Das ist nur nicht mehr Zukunftsversion, sondern längst gelebte Realität. Wesentlich origineller sind Ideen wie die von den Menschen, die befreit von Arbeit und dem Druck verrinnender Lebenszeit in jahrelangen Theaterstücken sitzen. Oder die vom Albtraum eines Wissenschaftlers, in dem er einem Schlumpf mit Hitlerbärtchen begegnet und am Schluss vermutet, er habe von Charlie Chaplin geträumt.
In der Vielzahl von Einfällen und vielleicht auch dem allzu lustvollen Ausspielen der darstellerischen und medialen Möglichkeiten verzettelt sich der Abend etwas, so dass nicht mehr recht klar ist, was dieser Bühnencomic erzählen möchte. Utopie oder Dystopie? Nano-Bots, die uns von Krankheiten heilen und vom Alkoholmißbrauch nur den Spaß übrig lassen – eigentlich eine tolle Idee. Auch die Unsterblichkeit, die nur noch durch ein herabfallendes Klavier durchkreuzt werden kann, bekommt in „The Last Mortal“ nicht wirklich eine Kehrseite. Selbst der Superheld „Big Data“ bleibt hinter der längst existierenden „Alexa“-Mithör-Realität zurück. Einzig die Farbfilter-Brille, die die Menschheit von der Rassismus-Krankheit heilt, indem sie „falschfarbige“ Individuen ausblendet, gewinnt tatsächlich satirische Qualität. Davon hätte der Abend viel mehr gebraucht, um die Frage zu stellen, welche Zukunft wir wollen. So ist der Bühnen-Comic „The Last Mortal“ nur ein hochvirtuoses Spektakel mit Songs, quietschbunt und stilsicher in den Mitteln, das aber immerhin sehr gut unterhält.
Team:
Buch / Regie / Komposition/Produktion: half past selber schuld.
Live-Team: half past selber schuld, Florian Deiss, Marko Erak Bonsink, Tijmen Brozius, Bruno Belil, Roy Tracy (USA), Anya Askew (USA).
Lichtdesign: Tobias Heide.
Sound und Video: Lex Parka.
Musik: half past selber schuld mit Lex Parka, Sven Kacirek, Dodo NKishi.
Video: half past selber schuld, Axel Ricke, Carlos Fleischer.
Shadow Design: half past selber schuld and Christine Marie (USA).
Co-Writing: Eli Zachary Socoloff Presser (USA).
Foto und Grafik: Christian Ahlborn.
Koproduktion: FFT Düsseldorf, Internationales Figurentheaterfestival Nürnberg, Erlangen, Fürth, Schwabach, Fidena Bochum und Pumpenhaus Münster.
Gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, das Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf, Fonds Darstellende Künste e.V. und die Stiftung Van Meeteren. Mit freundlicher Unterstützung der Firma A. Haussmann Theaterbedarf GmbH.
Foto: Christian Ahlborn