Künstler / Akteure

Anamnese des Blicks

Von Tom Mustroph

Fokus auf Gisèle Vienne, mit zwei Ausstellungen und einem Performanceprogramm in Berlin.

19. September 2024

Gisèle Vienne rekonstruiert Taten und Tatorte. Das ist aus ihren Bühnenwerken bekannt, seien es das frühe Stück „Jerk“ über die Beichte des Komplizen eines Serienmörders oder die im letzten Jahr bei der Ruhrtriennale herausgekommene Produktion „Extra Life“, in der zwei Geschwister sich langsam dem eigentlich Unsagbaren nähern, dem sexuellen Missbrauch durch ihren Großvater.
Jetzt in Berlin setzt Vienne in der Kooperation von gleich zwei Ausstellungshäusern sowie den Sophiensælen ihre spekulativen Tatortrekonstruktionen fort.
 
Die Schneewittchen-Konstellation
 
Im Haus am Waldsee liegen gut ein Dutzend Glaskästen in strenger Ordnung nebeneinander. Wegen ihrer länglichen Form erinnern sie an Särge. Und tatsächlich befindet sich in jedem von ihnen je eine reglose Mädchengestalt. Die Gesichter sind bleich und wächsern. Sie erinnern an Schneewittchen, nur dass hier eben die sieben Zwerge fehlen und statt ihnen gleich 2x7 Schneewittchens in den Glassärgen liegen. Die lebensgroßen Mädchengestalten tragen ganz prosaische Kleidung: Viel weiße Sneakers, ein paar Jeansjacken, manche einen Rock. Auch ein Norweger-Pulli findet sich. Manche der Mädchen wirken aufgerüstet, haben zum Beispiel die Unterarme mit Nagelbändern versehen. Ein anderes Mädchen hält eine zerdrückte Getränkedose in der Hand.
Sie wirken wie aus dem Leben gerissen, Opfer einer Katastrophe, eines Tötungsverbrechens.
 

"Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play" (Haus am Waldsee, 2024) © Frank Sperling

Im Obergeschoss setzt sich die Inszenierung fort. Denn als Inszenierung, als Puppenspiel, ist die Ausstellung „This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“ ja gedacht. Oben befinden sich die hölzernen Transportkisten für die Glaskästen. Auch sie erinnern an Särge, an die klassischen Särge für ein Armenbegräbnis. Schlichtes Holz, längliche Form. Aufgeklappt liegen einigen von ihnen dort, andere sind übereinander gestapelt. Rote Spuren von Fingern und Füßen weisen auf dramatische Vorgänge hin: Auf Blut, das auch hier vergossen wurde, auf Füße, die in der roten Flüssigkeit gebadet haben müssen, auf Hände, die darin getaucht waren.
 
Gewalt und Rache
 
Muten die still gestellten Mädchenfiguren zunächst als Opfer an, so schreibt Vienne ihnen doch auch andere Verhaltensweisen zu. Ein Mädchen, das auf einem Podest sitzt, mit dem Rücken zu den Ausstellungsbesuchern und dem Gesicht zur Wand gerichtet, hält einen Zettel in der Hand. Es handelt sich um einen Brief, den Klara – so heißt auch eine Figur in „Extra Life“ – an eine Rose richtet und in der sie wünscht, Rose hätte ein paar Leute fertig gemacht und ihnen die Mäuler gestopft. In diesem Mädchen, und auch in den anderen, darf man schlussfolgern, steckt offenbar ein gehöriges Rachepotential, ein mächtiger Wunsch nach Bestrafung und Vergeltung.
 
Im zweiten Ausstellungshaus, dem Georg Kolbe Museum, setzt sich diese Spur fort. Hier hält ein Mädchen namens Rose einen Brief an Klara in den Händen, in dem sie von einer mysteriösen männlichen Person warnt. Liegen die Mädchenfiguren im Haus am Waldsee zumeist eingeschlossen in ihre gläsernen Behältnisse, so sind sie im Kolbe Museum aufrecht stehend und sitzend anzutreffen. Sie vermischen sich mit dem Publikum, gehen in der Menge der Besucher*innen förmlich auf. Fotografien an den Wänden zeigen, wie im Probenprozess Spieler*innen mit den Puppen agieren. Auch hier stellt sich, wenn Puppenbein an Menschenbein ist, sich Schoß und Gesäß berühren, eine Atmosphäre von Bedrohung, Gebrauch, ja Missbrauch ein.
 
Dialogversuch mit der Avantgarde der 1920er Jahre
 
Im Kolbe Museum, eingerichtet im einstigen Atelierhaus des Bildhauers Georg Kolbe, das sich vor allem auf plastische Arbeiten konzentriert, werden Viennes Mädchenfiguren in Dialog mit Puppen von Avantgardekünstlerinnen der 1920er Jahre gesetzt, unter anderen Hannah Höch, Lotte Reiniger und Sophie Taeuber-Arp. Die Puppen selbst korrespondieren dabei eher nicht miteinander. Das mag an der Größe liegen: Viennes Figuren sind lebensgroß, die Avantgarde-Puppen hand- bis armgroß. Die von Vienne sind fotorealistisch, die von Taeuber-Arp eher geometrisch-kubistisch, die von Höch skurril-dadaistisch. Auch der Gebrauch war höchst unterschiedlich. Die ausgestellten Wachsfiguren von Lotte Pritzel etwa wurden für Werbekampagnen der Keksfirma Bahlsen eingesetzt.
 

"Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde" (Georg Kolbe Museum, 2024) © Enric Duch
 
Als verbindendes Element stellt die Kuratorin und Leiterin des Kolbe Museums allerdings das Moment des Verdoppelns heraus, also das Erweitern des eigenen Lebens um die Puppe und dessen – oft mehrfach gebrochene – Spiegelung darin. „Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann“ lautet denn auch der Titel dieser Teilausstellung.
 
Vervielfältigung des Ichs
 
Im Falle Viennes und ihrer vielen Figuren handelt es sich nicht mehr nur um eine Verdopplung, sondern eine fast unendlich scheinende Vervielfältigung des eigenen Ichs. Dieses Motiv prägt auch den extra für die Ausstellung produzierten Film „Kerstin Kraus“. Hier kommuniziert die 2019 verstorbene Puppenspielerin Kerstin Daley-Baradel mit der Puppe Frankie. Beide gehen anhand von Fotografien die eigenen Lebensgeschichten durch. Bauchrednerpuppe Frankie entpuppt sich dabei als Begleiter des Vaters der Spielerin. Beide stecken also in einer Art geschwisterlichem Verhältnis. Beide sind aber auch aufeinander angewiesen, Frankie auf die Stimme und überhaupt die Leben einhauchenden Tätigkeiten der Spielerin. Und letztere kann mit Frankie eben auch Grenzen überschreiten und andere Arten des Sprechens und des Seins ermöglichen.
 
Es handelt sich dabei um einen wahrnehmungstheoretisch geprägten Zugang zu Puppenspiel. Er scheint aktuell die Kunstwelt zu begeistern, so sehr sogar, dass sich die Begeisterten als Entdecker*innen zu profilieren suchen. Die Doppelausstellung, verbunden mit einem Filmscreening von „Jerk“ und der Vorstellung des Tanzstücks „Crowd“ in den Sophiensælen, wird damit beworben, die erste Präsentation von Viennes Werk in Berlin zu sein. Nun, ihre „Kindertotenlieder“ waren schon 2007 beim Festival Tanz im August zu sehen, damals ausgerechnet in den Sophiensælen. „Extra Life“ war in diesem Mai beim Berliner Theatertreffen, wurde allerdings in Potsdam gezeigt. Weniger Exklusiv-Wedelei des kuratorischen Teams wäre hier mehr gewesen – zumal für Vienne gerade das wichtig ist: Die Blicke und Perspektiven, die Macht erst konstituieren.
 
Machtkonstruktionen des Blicks auf die Puppe und von der Puppe zurück
 
Das ist ihr künstlerisches Leitmotiv. Und um die Macht von Blick und Perspektive aufzudecken, greift sie oft zu sehr drastischen Mitteln. In der Filmversion von „Jerk“, die in den Sophiensælen gezeigt wurde, lässt sie nicht nur die Verbrechen des Serienmörders Dean Corll mit Handpuppen nachstellen. Sie betont auch Corlls ultimative Entpersönlichung seiner Opfer, wenn der Puppenspieler Jonathan Capdevielle in der Rolle des Corll-Komplizen David Brooks nicht nur von den sexuellen Misshandlungen und Folter erzählt, sondern auch davon, dass er deren entstellte Leichen in die Körper Prominenter verwandelt, etwa den des Led Zeppelin-Gitarristen Jimmy Page. Und auch Brooks selbst, die Hauptfigur in „Jerk“, ist am Ende nur noch ein Körper, aus dem die mörderischen Erinnerungen herausgurgeln – sein Ich ist abgespalten.
 

"Jerk" (DACM/Gisèle Vienne, 2021): Jonathan Capdevielle © Compagnie des Indes

Letztlich stellt Vienne, 15 Jahre nach der Erstaustragung des Internationalen Puppentheaterfestivals in Charleville-Mézières ebendort geboren, die Konventionen des Puppentheaters infrage. Denn dem Blick auf die Puppen kann immer Schuld, kann immer Machtausübung unterstellt werden. Der Puppe selbst kommt dabei eine Doppelrolle zu: Einerseits Objekt, das in den Händen der Spielenden animiert und von den Zuschauenden als Wesen perzipiert wird. Andererseits kann die Puppe aber auch zum Modell, zum Idol, zum Nachahmenswerten, ja sogar zur Form, in die sich die Zuschauenden zu pressen haben, erhöht werden – und damit ihrerseits Macht ausüben. Verknüpft man die Puppe dann noch mit der Maschine, dem Algorithmus, der künstlichen Intelligenz, so eröffnet sich ein geradezu Schwindel erregender Diskurs- und Assoziationsraum. Möglicherweise geht in diesen gedanklichen Wirbelstürmen aber das Puppentheater selbst unter.
 
In den Sophiensælen ist im November Viennes Tanzproduktion „Crowd“ (bei der ursprünglich auch Daley-Baradel mitwirkte) zu sehen. Und für 2025 und 2027 planen die Berliner Festspiele Produktionen mit Vienne, erzählte Intendant Matthias Pees. Die gelernte Puppenspielerin aus Charleville-Mézières erobert also immer mehr die Theaterolympe in Deutschland.

Website von Gisèle Vienne

Haus am Waldsee: "Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play"

12. September 2024 - 12. Januar 2025
Haus am Waldsee

Georg Kolbe Museum: "Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde"
12. September 2024 -
9. März 2025
Georg Kolbe Museum

Gisèle Vienne: "Crowd"
14. – 16. November 2024
Sophiensæle Berlin