Die aktuelle Kritik

Schaubude Berlin: „Fanny und Alexander“

Von Barbara Fuchs

Ein emotionales Spiel um Wahrheit und Lüge, die Macht der Fantasie und den Mut von Kindern und Frauen, gegen Gewalt aufzustehen.

Der Schwede Ingmar Bergman war nicht nur ein großartiger Filmregisseur. Er war auch ein leidenschaftlicher Schreiber und Theaterregisseur, der seine Stoffe vor allem aus seinen Erinnerungen schöpfte. „Fanny und Alexander“, sein letzter Kinofilm (1982) ist eine lustvolle, aber auch schmerzhafte Reflexion seiner frühen familiären Prägungen. Bergmans Bühnenfassung ist ein Angebot für Ensembles in großer Besetzung. Nis Søgaard aber, der als Regisseur für seinen Wagemut bekannt ist, hat das Werk mit einem kleinen Team so verdichtet, dass es mit nur drei Spieler*innen in die Schaubude Berlin passt und auch auf Tournee gehen kann. Das schlank gemachte Textbuch von Tim Sandweg konzentriert sich auf die Hauptkonflikte. Bergmans sinnlich-bilderreiche Sprache ist in der Übersetzung von Renate Bleibtreu erhalten geblieben.

Erzählt wird die Geschichte zweier Kinder, die behütet und geliebt in einer großbürgerlichen Theaterfamilie aufwachsen. Doch nachdem ihr Vater Oscar Ekdahl, Theaterdirektor und Schauspieler, gestorben ist, und ihre junge Mutter, die Schauspielerin Emilie Ekdahl, den Bischof Edvard Vergérus heiratet, betreten sie eine Welt, in der Askese, Zucht, Ordnung und harte Strafen ihr Leben prägen.

Iduna Hegen, Karoline Hoffmann und Pierre Schäfer, die zum ersten Mal zusammen auf der Bühne stehen, setzen diese Schwarz-Weiß-Welt emotional wirkungsvoll in Szene. Sie sprechen Monologe als Erzähltheater, in denen sie aus unterschiedlichen Perspektiven Räume, Situationen und Gefühle beschreiben und wechseln immer dann, wenn es Dialoge gibt, ins Schauspiel, Puppenspiel oder Schattentheater. Alle spielen mehrere Rollen. Sie singen und tanzen, sind Lichtarbeiter*innen und bauen ganz nebenbei Ihr Bühnenbild immer wieder neu zusammen.

Bei Bergman spielt die Handlung Anfang des 20. Jahrhunderts in einer schwedischen Kleinstadt. In der Schaubude überrascht das aus der Zeit gefallene Bühnenbild von Jeanne Louët in seiner Kargheit. Das grobe Mobiliar könnte aus einem Büro von Ikea oder dem Bauhaus stammen. Doch schon nach kurzem Spiel werden die Vorzüge der freien Bühne und die Möbel von Alessandro Maggioni in ihrer Variabilität und Funktion als moderne Laterna magica erlebbar.

Ohne Kindertümelei spielt Pierre Schäfer den zehnjährigen Alexander. Die junge Karoline Hoffmann mimt die kleine Schwester Fanny, die fest zu ihrem Bruder hält, sowie die Mutter Emilie. Iduna Hegen ist in sechs Rollen zu sehen: Herausragend ist sie als Großmutter Helena Ekdahl, die eine berühmte Schauspielerin war und noch immer die größte Autorität genießt. Auch die drei Männer, der kreative Vater Oscar, der fanatische Bischof Edvard Vergérus sowie der Antiquitätenhändler, Freund der Familie und früherer Geliebter von Helena – Isak Jacobus – werden von ihr verkörpert.

Die Handlung setzt am Heiligabend ein. In einem kleinen Papiertheater, das als Zeichen für das Stadttheater der Familie Ekdahl steht, wird das Krippenspiel aufgeführt. Das Christkind wird freudig mit „Jesus!“, „Halleluja!“ und rhythmischem Gesang begrüßt. Auch wenn die kleinen Figuren nur in den ersten Reihen zu sehen sind, wird der Enthusiasmus der Spieler*innen vom Publikum mit Beifall honoriert. Dabei geht die richtige Feier erst beim Festessen in Großmutters Salon los. Da wird viel geredet, getrunken, gelacht und zu schwedischen Weihnachtsliedern Polonaise getanzt, dass „der Boden wackelt, das Haus zittert und der Kronleuchter klirrt“. Mit einer im Rhythmus schwingenden transparenten Girlande und tanzenden Figuren wird die Szene lebendig auf die Bühnenrückwand projiziert. Zu später Stunde sitzt der Vater bei den Kindern am Bett und führt das schönste Weihnachtsgeschenk, eine Laterna magica, mit Bildern von „Hamlet“-Proben vor. Die Kinder sind fasziniert und bekommen die Zusage, dass sie als Pagen mitspielen dürfen.

Als Oscar Ekdahl bei einer Theaterprobe den Geist von Hamlets Vater spielt (von Hegen als Marionette geführt), bricht er zusammen. „Kommt jetzt der Tod?“, fragt Iduna Hegen noch in der Rolle von Oscar. Aber da ist der Bühnenumbau schon im vollen Gange. Mit Scherenschnitten aus einem Pop-up-Buch entstehen Schatten eines Doms und Grabkreuze. Iduna Hegen wird zur Berichterstatterin von Oscars Beerdigung.

Nach einem Jahr verlässt Emilie das Theater und heiratet den Bischof. Sie folgt seiner Bedingung, dass sie und die Kinder ohne jeden Besitz zu ihm kommen. Sein Leben ist geprägt von Askese, Strenge und religiösem Fanatismus. Alexander zeigt von Anfang an Widerstand und flüchtet sich in eine Fantasiewelt. Als er erzählt, des Bischofs erste Frau und seine zwei Töchter seien auf der Flucht vor ihm im Fluss ertrunken (was Schäfer bei unheilvoller Musik gestenreich nachspielt), prügelt ihn der Bischof mit einem Rohrstock, bis sein Widerstand gebrochen ist und sperrt ihn auf dem Dachboden ein. Emilie erkennt zu spät, an wen sie geraten ist und sucht Rat bei Helena – eine schöne Szene der zwei Frauen, die von Bildern am Lichttisch – Emilie weinend und ein Junge, den es auseinanderreißt - unterstützt wird. Karoline Hoffmann hat eine starke Präsenz als schwangere Emilie, die ihren Mann verlassen will. In einem ergreifenden Tanz wird ihre Verzweiflung emotional mit dem Playback-Song "I'd do anything for love" von Meat Loaf in Szene gesetzt. Helena motiviert Isak Jacobus, den Antiquitätenhändler, aktiv zu werden. Er wird durch nicht erklärbare Wunder unter den Augen des Bischofs zum Retter der Kinder.

Für Alexander tut sich in dieser Nacht eine neue Welt auf. Pierre Schäfer beschreibt, wie dieser verwirrt in Isaks geheimnisvoller Wohnung umherirrt. Als sein Vater ihm wieder als Geist erscheint, verwünscht Alexander Gott und Vater, weil keiner von beiden hilft. Eine verbotene Tür öffnet sich und Isaks jugendlicher Neffe Anders, der über telepathische Fähigkeiten verfügt, verbündet sich mit ihm. So, als wären sie eine Person, richten sie böse Wünsche gegen den Bischof. Das Gesicht von Karoline Hoffmann, die für den Jungen Anders spricht, ist durch Papiermasken verdeckt. Eine Maske nach der anderen reißt sie ab, die letzte, eine tiefschwarze, bleibt hängen. Diese Szene geht unter die Haut, ist doch damit ein Bild gegeben von dem Bischof, der in derselben Nacht durch ein Feuer ums Leben kam.

Das Spiel mit Realität und Illusion, Wunsch und Wirklichkeit, Fantasie, Täuschung und Lüge, das in Bergmans Bühnentext in immer neuen Variationen aufscheint, wurde im Film durch opulente Bilder wiedergegeben. Hier aber mit der karg eingerichteten Bühne, werden fantastische Bilder mit der Laterna magica von den Darsteller*innen im Techniker*innen-Outfit erzeugt. Aber es ist vor allem der gesprochene Text, der die Imagination des Publikums in Gang setzt. Bei allem Ernst gibt es auch Spielwitz und immer wieder schauspielerische Glanzlichter.

Aber es bleiben auch manche Fragen offen, z. B. zur seltsamen Maskierung von Isak oder der neugeborenen Aurora, die am Ende des Stücks als Papierfigur hervorgezaubert wird. Besonders hervorzuheben ist Yvi Philipp, die der Inszenierung Rhythmus gibt und musikalisch festliche oder sakrale, mythische und seelische Räume öffnet.  

Eine Inszenierung, die zu den aktuellen Bewegungen, bei denen junge Menschen nicht mehr still bleiben, wenn es um ihre Zukunft geht, auf ganz eigene Weise Anregungen gibt.

---

Premiere: 15.10.2021

Dauer: 100 Min.

Spiel: Iduna Hegen, Karoline Hoffmann, Pierre Schäfer

Regie: Nis Søgaard

Objekte+Projektionen: Alessandro Maggioni

Bühne: Jeanne Louët

Musik: Yvi Philipp

Bühnenfassung, Dramaturgie: Tim Sandweg

Lichtdesign: Werner Wallner

Technische Beratung: Daniel Huber

Fotos: Zé de Paiva & Kathleen Kunath

Rechte der Übersetzung: Renate Bleibtreu, Hamburg

Gefördert von Hauptstadtkulturfonds.

Nächste Vorstellungen:

21. und 22. 01. 2022, 20:00 Uhr, Schaubude Berlin

1 Kommentar
Peter Waschinsky
01.01.2022

Fanny und Alexander

Nach einem grossartigen "Fest" nach dem Vinterberg-Film mit grossen Schweinepuppen vor einigen Jahren zeigte Nis Søgaard nun wieder schauspielende Puppenspieler (einfach hier die Bilder ansehn), gegen die gelegentliche Papierpuppen- und Schatten-Einlagen, teils nachlässig animiert, nicht recht ankamen. Aber das ist seit Jahrzehnten üblich und das Schaubuden-Publikum dran gewöhnt...

Ich bin vor 33 Jahren fuer Demokratie auf die DDR-Strasse gegangen und habe bald darauf auch Demokratie im Berliner Zentralen Puppentheater gefordert. Die haben wir jetzt insofern, als hier jeder alles machen kann, wenn nur minimalste Puppenspiel-Spuren drin sind.
Es erinnert mich an die heutigen Strassendemonstrationen, wo eine Freiheit gefordert wird, die zwar gesetzlich im Prinzip zusteht - die aber derzeit faktisch viele Menschen das Leben kosten kann.

Hat die "kreative Freiheit" in der Schaubude das Genre wirklich belebt? Oder hat das permanente Ausweichen auf Schauspiel - um 1980 vielleicht mal wirklich Innovation - das Genre eher seiner Auslöschung nahegebracht?

Gottseidank wird, wie in diesem Portal inzwischen durchaus reflektiert, in der Provinz wieder oder immer noch mit Figuren gespielt - gelegentlich sogar mit Marionetten.

Neuer Kommentar