Die aktuelle Kritik

Theater Oberhausen: "Der Sandmann"

Von Pia Soldan

Mit Puppen, Projektionen und Schattenspiel stellt sich das Grauen aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung fast von allein ein.

Am 18. Oktober erschien online ein Artikel, der sich auf die Forschung Jeff Nesbits bezieht, des früheren Leiters für Rechts- und Öffentlichkeitsangelegenheiten der National Science Foundation. Demnach kommt Nesbit zu dem Schluss: „Wenn ich einen Tipp abgeben müsste, was die größte Bedrohung unserer Existenz ist, dann ist es vermutlich KI [Künstliche Intelligenz].“ Der Forscher bezieht sich auf eine Theorie, die besagt, dass Künstliche Intelligenz sich autonom weiterentwickeln und somit schließlich die Menschheit übertrumpfen könne.

Ein ähnlicher Gedanke findet sich in der Bühnenfassung des Sandmannes von E.T.A. Hoffmann unter der Regie von Florian Fiedler, die am 3. November am Theater Oberhausen Premiere feierte. So betritt Klaus Zwick als Spalanzani die Bühne, das Wort „Fort-Schritt“ beständig wiederholend und mit jedem „Schritt“ brutal seinen Gehstock aufsetzend. Der in seinem Wahnsinn, der durch die weiße Wirrfrisur sichtbar gemacht wird, gleichzeitig gekonnt albern und bedrohliche Spalanzani hält eine glühende Rede über die Künstliche Intelligenz: „Der Fortschritt wird sehr viel schneller sein, wenn er durch übermenschliche Intelligenz vorangetrieben wird. Im Prinzip spricht nichts dagegen, dass dieser Fortschritt dann immer intelligentere Wesen hervorbringt – in immer kürzerer Zeit. […]“ Konsequenterweise hat Spalanzani mit seiner „Tochter“ Olimpia eine solche Künstliche Intelligenz geschaffen.

Als der Student Nathanael am Studienort in Italien Olimpia begegnet, vergisst er seine Verlobte Clara in der Heimat. Er fixiert sich so sehr auf Olimpia, dass dieses Einsteigermodell einer KI ihn davon überzeugen kann, dass ihr beständiges „Ach“ Ausdruck ihrer Anteilnahme und ihre abgehackten Bewegungen beim Tanz der Beweis eines perfektionierten Rhythmusgefühls seien. Aber diese Beziehung ist nur der Höhepunkt von Nathanaels Fremdbestimmtheit, die Florian Fiedler unter dem Einsatz einer Puppe für den Protagonisten konkretisiert. Dass die Erwartungshaltung dessen, der Hoffmanns Erzählung kennt, dabei ad absurdum geführt wird, macht einen besonderen Reiz aus. Denn es ist eben nicht die Puppe, die auf der Bühne durch eine Puppe verkörpert wird. Stattdessen werden Ayana Goldstein, Elisabeth Hoppe, Lise Wolle und Ronja Oppelt mit Kleidern und Kronen aus Tablettenblistern ausgerüstet und ihre virtuos maschinenhaften Bewegungen und Stimmlagen übertrumpfen jeden Cyborg. „Du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt“, betet die Puppe Nathanael Olimpia an und imitiert ihre Bewegungen und sie wiederum seine, sodass sie sich gegenseitig Puppenhaftigkeit und Menschlichkeit vererben. Wer wem was vererbt, verbleibt im beständigen Wechselspiel in ungeklärter Unendlichkeit.

Unter den Händen und Körpern der vier Schauspielerinnen bleibt Nathanael jedoch immer der Mensch, den seine Puppenhaftigkeit darstellt, wodurch das hochästhetische Netz aus Paradoxa perfekt wird. Detailgetreu werden Nathanaels extreme und extrem schwankenden Gefühlsregungen über die Gestik der Puppe visualisiert. Dabei halten die Schauspielerinnen Nathanaels Menschlichkeit anhand minimaler Bewegungen aufrecht, indem sie beispielsweise seinen Fuß am Boden halten, als er schräg auf seiner Bettkante sitzt, und so ein puppenhaftes Herumbaumeln verhindern. Besonders interessant wird dieses Spiel, wenn Clara, die ebenfalls im Wechsel oder gleichzeitig von den vier Schauspielerinnen verkörpert wird, mit Nathanael tanzt. Aus dem Puppenspiel wird so ein virtuoser Doppeltanz, beide Rollen in einem perfektionierten Wechselspiel, eingenommen von ein und derselben Clara.

Vor der Kulisse des elterlichen Wohnhauses, die in diesem minimalistischen Bühnenbild lediglich durch wiedererkennbare Projektionen an die weißen Stoffbahnen Erwähnung findet, konkretisiert sich in diesem Tanz das Glück zweier Liebender. Doch dann nähert sich der Zeiger der beständig tickenden, ebenfalls projizierten Uhr, der Neun. Und die Traurigkeit der Mutter, die Hoffmann so wortreich ausführt, verbalisiert sich kurz und eindrücklich, wenn die Mutter sagt: „Der Sandmann kommt, ich merk es schon.“

Mit dem lauten Schlagen der Uhr zur vollen Stunde nähert sich Coppelius, die Schreckensfigur aus Nathanaels Kindheit, in einem bedrohlichen Schattenspiel, das über das vollständig weiß verhängte Bühnenbild zu angsteinflößender Größe erwächst. Etwas slapstickartig beschwört Coppelius dann mit Nathanaels Vater die für den Vater tödliche und auf der Bühne durch eine comichafte Projektion dargestellte Explosion hervor. Dann reißt er Nathaneal alle Extremitäten heraus, durch Einsatz der Puppe mit blutigen Stümpfen sehr konkret visualisiert. Als Nathanael als weitere, unversehrte Puppe aus seinen Fieberträumen erwacht, stopft Clara die verkehrt zusammengesetzte Albtraum-Version in einen Beutel und vermeidet es so, ihre bodenständige Art abgeschmackt zu psychologisieren. Denn was sie da tut, ist klar: Sie versucht, Nathanaels Grauen und seine Fixierung darauf durch den simplen Akt zu beenden.

Warum die Einzelteile dann später als Freund Sigmund reaktiviert werden, ist nicht ersichtlich, aber das Publikum amüsiert sich. Und irgendwie hat es auch seinen Reiz, dass Sigmund sich mit einem Bein, dass dort sitzt, wo der Arm sein sollte, langsam vorwärtszieht. Denn in diesem absurden Spiel steckt erneut das Grauen, dass der Schwarzromantiker Hoffmann so bedrohlich zu Papier brachte.

Foto: Katrin Ribbe

Premiere 3.11.2018 Großes Haus

Regie Florian Fiedler
Puppen Co-Regie Dorothee Metz
Bühnenbild Jens Burde
Kostüme Daniel Kroh
Puppenkonzeption Dorothee Metz und Vanessa Valk
Puppenbau Dorothee Metz und Markus Hahn
Musik Martin Engelbach
Dramaturgie Hannah Saar.

2 Kommentare
dfp-Team
06.11.2018

Namensnennung

Liebe Frau Metz,
herzlichen Dank für Ihren wichtigen und schönen Hinweis. Wir haben die Angaben aktualisiert und freuen uns über Ihre Gedanken und den Einblick.
Dorothee Metz
06.11.2018

Sandmann

Liebe Pia Soldan,
vielen Dank für Ihre aufmerksame, detaillierte und zugewandte Kritik!
Bei der Namensnennung würde ich nur gerne auf folgendes hinweisen:
Regie Florian Fiedler, Puppen Co-Regie Dorothee Metz, Bühnenbild Jens Burde, Kostüme Daniel Kroh, Puppenkonzeption Dorothee Metz und Vanessa Valk, Puppenbau Dorothee Metz und Markus Hahn, Musik Martin Engelbach, Dramaturgie Hannah Saar.
Ich schreibe das, weil dieses Stück so vielen Herzen und Hirnen entsprungen ist, und gerade die Kollaboration all dieser Menschen so Spaß gemacht hat. Markus Hahn hat diesen, wie ich finde, wunderschönen Kopf modelliert und ist als Maskenbildner am Theater Oberhausen tätig.
Mit herzlichen Grüßen!
Dorothee Metz

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