Die aktuelle Kritik

Puppentheater Halle: "Wir sind noch einmal davongekommen"

Von Thilo Sauer

Thornton Wilders Stück ist ein wunderbares Durcheinander der Zeitalter, der menschlichen Weltzerstörungstalente und mythischen Bezüge. Das Puppentheater Halle zeigt diese absurde Fantasie-Geschichte mit klassischen Handpuppen.

Von rechts kommt ein kleines flauschiges Mammut mit riesigen Stoßzähnen auf die Bühne getrottet und trötet kurz. Von links stampft ein grüner Tyrannosaurus rein, der immer wieder sein zähnefletschendes Maul aufreißt. Vor der Projektion einer Felsenlandschaft im Hintergrund nähern sich die beiden Tiere langsam und beschnuppern sich. Wollen sie miteinander kämpfen?

Nein, sie fallen sich gewissermaßen in die Arme. Sie kuscheln sich aneinander, kraulen ihre Bäuche und entlausen sich. „Sonne“, murmelt das Mammut. Der T-Rex setzt nun eine Nachrichten-Stimme auf und erzählt, dass doch wieder ein Tag ist – der Weltuntergang wurde verschoben. Aber es bleibt kritisch: Es war niemals kälter in New Jersey und das mitten im August. Es ist Eiszeit.

Szene aus »Wir sind noch einmal davongekommen« © Falk Wenzel

Dann wird auf die schwarze Sichtwand der Umriss eines Hauses mit roter Deckenlampe sowie ein roter Kamin gesteckt. Eine Puppe mit blonder Dauerwelle und Staubwedel taucht auf und treibt die beiden Tiere in die Kälte. Das Hausmädchen Sabina stellt dem Publikum das weitere Personal vor: Mr. Antrobus erfindet gerade das Alphabet und das Einmaleins. Seine Frau Mrs. Antrobus ist so etwas wie die Mutter aller Mütter. Tochter Gladys ist eine Streberin, die permanent versucht, ihre Sexualität zu erkunden, um sexy zu werden. Sohn Henry hieß mal Kain und schmeißt ständig mit Steinen nach Leuten.

Auf der einen Seite wirken die Figuren vertraut wie aus einer Family Sitcom, auf der anderen Seite scheinen sie aus einer fremden Welt zu stammen. Deswegen ist es auch so schön, diese Geschichte mit Puppen zu sehen, die eben auch menschlich wirken, aber nicht menschlich sind. Sie wirken wie Parodien auf echte Menschen – weil sie so klein sind, weil die Spieler:innen sie immer leicht hüpfen lassen, um ihr Gehen zu simulieren, weil ihre Armbewegungen hölzern und überzeichnet wirken. Christoph Werner, Regisseur und Leiter des Puppentheaters Halle, hat sich für eine Spielweise entschieden, die es so schon lange nicht mehr zu sehen gab: Das Ensemble spielt verdeckt hinter einer Sichtwand, über die es die Handpuppen hebt. Die Spieler*innen beweisen, dass sie auch diese Form des Puppenspiels beherrschen.

Doch sie ziehen es nicht komplett durch: Die Stellwand ist durchscheinend und gelegentlich treten die Spieler*innen auch nach vorne. Vor allem Lars Frank als Sabina muss immer wieder aus der Rolle fallen. Muss, weil das tatsächlich im Stück von Wilder angelegt ist. Daher tritt auch nicht der Spieler an das Publikum, sondern seine Puppe. Das ist leider etwas verwirrend, weil die Puppe ja in der Regel keine Rolle spielt. Ob das jeder im Publikum auf Anhieb versteht, darf bezweifelt werden. Erst zum Schluss findet das Team um Christoph Werner eine schöne Form: Die Arme sind nicht mehr ganz in die Luft gestreckt, sondern auf Augenhöhe abgesenkt. So bleibt wunderbar unklar, wer da eigentlich spricht: Puppe oder Mensch.

Die größte Stärke des Abends ist jedoch der Text von Wilder, auf den sich Werner ganz verlässt. „In 100 Jahren wird das keinen mehr interessieren“, sagt Sabina zweimal. Ganz so alt ist das Stück noch nicht, aber auch mit 80 Jahren kommt der Text erstaunlich aktuell daher: Ja, wir ächzen heute immer über neue Hitze-Rekorde, doch das kann schnell umschlagen in eine Eiszeit. Dann stehen plötzlich Flüchtlinge im Haus Antrobus. Mr. Antrobus wirbt damit, dass auch ein Arzt dabei sei. Wenn Mrs. Antrobus das akzeptiert, aber den Rest draußen lassen will, sind wir mitten in der Debatte, die spätestens seit 2015 schwelt.

Szene aus »Wir sind noch einmal davongekommen« © Falk Wenzel

Im zweiten Teil ist die Welt wieder gerettet. Die Puppen sind nun am Strand und sehen nicht mehr ganz nach Puppenhaus aus dem frühen 20. Jahrhundert aus, sondern erinnern eher an Pop-Art-Wiedergänger der 60er-Jahre-Stars. Mr. Antrobus ist gerade zum Sprecher der Menschheit gewählt worden und tauscht das Motto „Arbeitet“ gegen „Viel Spaß“ aus – da begann also die Spaßgesellschaft. Dass auch immer wieder Mrs. Antrobus nach ihrer Meinung gefragt wird, die fast im Gegensatz unlösbare Aufgaben aufzählt, passt auch wunderbar zum Diskurs um Care-Arbeit und Gleichberechtigung.

Schließlich reißt das Ensemble die Bühne ein und wirft den Sichtschutz um: Es ist Krieg. Wann in der Menschheitsgeschichte war kein Krieg? Doch so grauenhaft und nah war er schon lange nicht mehr und bei jedem Satz muss man schlucken, weil man an die Ukraine denkt. Der Feind ist der Sohn Henry (da spielt der Generationenkonflikt gleich noch mit) und Mr. Antrobus sagt im Zorn, dass er ihn lieber ewig bekämpfen würde, als mit ihm zu leben. Und die Herzen werden schwer.

Das klingt nun sehr bedrückend, aber tatsächlich lebt das Stück von sehr viel Witz. Dafür haben Regie und Ensemble auch das perfekte Gespür entwickelt, sodass ihnen das Timing für jede Pointe gelingt. Ironischerweise steckt das Stück auch voller Hoffnung: Die Katastrophe ist der Dauerzustand der Menschheit. Doch wir haben überlebt und sind dabei sogar vorwärtsgekommen, können inzwischen rechnen, lesen und Kunst schaffen. Die Krisen können also überwunden werden – wir müssen nur wirklich etwas tun.

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„Wir sind noch einmal davongekommen“

Von Thornton Wilder

Regie: Christoph Werner

Bühne und Kostüme: Angela Baumgart

Video: Conny Klar

Musik: Gundolf Nandico

Dramaturgie: Bernhild Bense

Puppenbau: Simon Buchegger

Regieassistenz: Verena Brink

Ausstattungsassistenz: Lea Stöcker

Mit: Simon Buchegger, Luise Friederike Hennig, Sebastian Fortak, Claudia Luise Bose, Lars Frank

Fotos: Falk Wenzel

Weitere Spieltermine auf der Website des Theaters

1 Kommentar
Peter Waschinsky
07.04.2023

Puppentheater Halle: "Wir sind noch einmal davongekommen"

Seit vielen Jahren sah man am Puppenth. Halle vor allem naturalistische Tischpuppen (auch hier in "Ciao") wie an den anderen ostdeutschen Ensembles - nun also klassische Hand- und sogar Stabpuppen. Letztere, sowjetischen Ursprungs, ueberschwemmten einst die DDR-Puppenspielszene und verschwanden mit der Mauer. Jetzt also wieder in Halle - im neuen Kontext.
Das nenne ich intelligentes Herangehen an Tradition und Avantgarde - anders als seit Jahrzehnten die verquaelte Ueberbetonung des Objekttheaters (das sich trotz allem nicht wirklich durchsetzt) auf Festivals und in einem preussischen Provinzstaedtchen namens Berlin. Wo man ein Gastspiel wie aus Halle aus naheliegenden Gruenden vermeidet, schon um kein Beispiel fuer Ensemblepuppenspiel zu zeigen, in Berlin quasi erfolgreich ausgerottet bzw. durch gelegentliche Auffuehrungen unbezahlter Studenten ersetzt.

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