Die aktuelle Kritik

Puppentheater Magdeburg: „Struwwelpeter“

Von Klaus-Peter Voigt

Das Hofspektakel bricht in diesem Jahr makaber und respektlos Tabus

Magdeburgs Stadtteil Buckau erhielt seine Prägung von der Industrie. Dort schlug über Jahrzehnte das Herz des Schwermaschinenbaus. Im traditionellen Arbeiterwohngebiet keimte 1977 ein kulturelles Pflänzchen, das inzwischen so etwas wie eine Institution geworden ist. Auf dem Hof des 1958 gegründeten städtischen Puppentheaters wagte der damalige Intendant Gustl Möller ein Experiment. Sommertheater unter freiem Himmel.

Das erste Programm, einen Hans‑Sachs‑Abend “Bier und Puppen”, inszenierte damals niemand geringeres als Margareta Niculescu, die Gründerin des Bukarester Puppentheaters “Tandarica” und langjährige UNIMA- Präsidentin. Der Erfolg war überwältigend und ist es bis heute geblieben. Karten für die wenigen Vorstellungswochen in jeder Saison sind nach wie vor rar.

In diesem Jahr heißt es nun „Struwwelpeter“. Der Kinderbuchklassiker, gedichtet und gezeichnet von dem Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann, erschien erstmals 1845 und trug den Untertitel „Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren“. Bei näherem Hinsehen erweist sich der gut gemeinte Erziehungsberater bis heute als eher bitterböses Belehrbuch, kindlicher Trotz endet in drakonischen Folgen.

Für die englische Band „The Tiger Lillies“ genau die richtige Vorlage, um daraus ihr eigenes Konzept mit schwarzem britischen Humor zu entwickeln. Sie schufen eine Junk-Oper für Erwachsene. Die Mischung ist mehr als schräg – Zirkusklänge, Musik, die sich an Brecht und Weill anlehnt, Bänkellieder, die Übergänge sind fließend. Man muss sich auf diesen Mix einlassen, der oft bis an die Grenzen des Vorstellbaren geht.

Als sommerliches Freilufttheater will die jüngste Inszenierung des Magdeburger Puppentheaters Freiräume ausloten, einen Abend bieten, der das Konzept „Irrenhaus“ umsetzt. Dr. Hoffmann höchstpersönlich leitet das Etablissement der besonderen Art. Durchgeknallte Typen nehmen dort das Heft in die Hand und betreiben gleich noch ein Bestattungsinstitut, das zum Zentrum aller Aktivitäten wird. Regisseur Hans-Jochen Menzel reizt das gruslige Abenteuer voll aus. Die Akteure geben alles, um temporeich und skurril zu agieren. Grenzen werden überschritten, das Sterben findet auf der originellen Bühne von Christian Werdin quasi im Viertelstundentakt statt. Die geschlossene Anstalt öffnet sich im Verlauf der Handlung immer mehr zum Publikum, gibt schließlich sogar eine Varietétreppe en miniatur frei. Schwache Nerven sind fehl am Platz. Selbst Paulinchen, die gern mit Schwefelhölzchen spielt, steht wie im Buch, plötzlich in Flammen. Beim Abtrennen der Daumen des Daumenlutschers spritz das Blut. Hoffmanns Therapieversuche reichen von frech und frivol bis zu fast abstoßenden Szenen. Manchmal scheint es zu derb, eine Spur zu heftig. Struwwelpeter gar kommt im Postpaket ins Haus, das von allerlei Besteckteilen durchbohrt scheint. 

Temporeich wird die Inszenierung vor allem durch einen Regieeinfall. Alle Irren und auch ihr Arzt sind doppelt besetzt. Es dauert einen Moment, bis das das Publikum erkennt. Das Wuseln auf der Bühne verlangt nach voller Aufmerksamkeit. Nach der Pause nimmt die Geschwindigkeit noch einmal zu und die Zweierfiguren treten fast ständig auch im Doppelpack auf. Die Tierpuppen Hase, Katze und Hund kommen mit ihrem struppigem Fell eher verwahrlost daher, scheinen einem Gruselkabinett entsprungen. Sie melden sich bissig-frech zu Wort und der Hase schießt schon mal die Darsteller geschlossen über den Haufen.

Für beste Unterhaltung sorgt die musikalische Umsetzung. Elektrogitarre, Saxophon, Schlagzeug und Piano werden souverän gespielt, eine zusätzliche Aufgabe für die Ensemblemitglieder. Erinnernd an Moritatensänger geben sie leicht abgewandelte Hoffmanntexte zum Besten, belehrend, mit schriller Musik. Dieser Wechsel mit den makabren, deftigen und fast tabulosen Spielszenen schafft zusätzlich Spannung. 

 

Premiere: 05.07.2019

REGIE Hans-Jochen Menzel BÜHNE Christian Werdin PUPPEN Jonathan Gentilhomme KOSTÜM Kathrin Hauer MUSIKALISCHE LEITUNG Andres Böhmer DRAMATURGIE Petra Szemacha SPIEL Claudia Luise Bose, Leonie Euler, Linda Mattern, Anna Wiesemeier, Freda Winter, Richard Barborka, Florian Kräuter, Lennart Morgenstern, Leonhard Schubert, Maurice Voß

Foto: Klaus-Peter Voigt

1 Kommentar
Peter Waschinsky
30.10.2019
Das London/Hamburger Original hat mich sehr inspiriert, ich hatte das Glück, in der deutschen Erstaufführung den Meister des Puppenspiels spielen zu können. Da, am Hamburger Schauspielhaus, gab es sehr viel Puppenspiel und das wurde von Publikum und Presse sehr honoriert. Am Magdeburger Puppentheater hingegen wurde vor allem geschauspielt. Nunja...

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