Die aktuelle Kritik

HfS Ernst Busch, Berlin: "Freispiele 2023"

Von Katja Kollmann

An der HfS Ernst Busch in Berlin zeigten Studierende des dritten Studienjahrs „Zeitgenössische Puppenspielkunst“ bei den „Freispielen“ ihre ersten eigenen Arbeiten. Die maximale Bandbreite an Themen und künstlerischen Mitteln machte den Doppelabend zum Ereignis.

In „Rinderwahnsinnige“ erschießt Töchterchen Hänselundgretel Muttermeinhoff, ihren Bruder Faustersterteil und Vater Karlmarx. Es ist, als wäre Laura Schulze aus einem Comic direkt auf die Bühne gesprungen. Maske und Gewehr wirken wie ausgeschnitten, Schulzes Bewegungen dazu sind eckig und abrupt. Zu einem Soundtrack, der einen Actionfilm untermalen könnte, ballert sie auf der Bühne herum. John von Düffel lässt in seinem 1999 geschriebenen Stück „Rinderwahnsinn“ Ideologien und Klischees aufeinanderprallen. Die vorhandene Diskursebene wird hier durch das genaue Spiel mit den Masken, die Körper und Stimme beherrschen, produktiv verfremdet. Eine extrem spannende Arbeit, die bei den „Freispielen `23“ an der HfS Ernst Busch Mitte Februar Premiere hatte. Studierende des dritten Jahrgangs „Zeitgenössische Puppenspielkunst“ zeigten ihre ersten eigenen Projekte: sieben Mal Theater in zwei Tagen. Das ist sogar für das Publikum eine Form von Arbeit. Was bleibt, sind inspirierende Denkanstöße und überdurchschnittlich viele Momente, die man im Gedächtnis verankern möchte.

So schaut Sven Tillmann gedankenverloren in die Ferne und bastelt dabei wie von selbst ein Papierschiffchen. Tillmann hat genug Bühnenpräsenz, um in einer Ecke der Bühne des „bat“ zu sitzen und den ganzen Raum zu füllen. Und er hat die Gabe, aus einem entschleunigten stummen Moment einen magischen zu machen. In „Sand fressen“ porträtiert er einen einsamen Menschen, den es auf eine einsame Insel verschlägt. Wie ihn dort die Einsamkeit besucht und wie er im Sand ein Gegenüber sehen möchte, das berührt in der Darstellung und ist inhaltlich erfrischend unkonventionell. Im Dialog mit dem auf der Insel gestrandeten Schwein wird Tillmann zum „klassischen“ Puppenspieler, indem er sich eine Socke mit einem Schweinsgesicht über die Hand zieht. Wie beide zwischen den Sandbergen aus Kartonage auftauchen und sich das erste Mal sehen, das ist leise, luftleichte Situationskomik, die glücklich macht.

"Die Verwandlung" (c) Barbara Braun MuTphoto

Kafka lässt grüßen: Leon Schamlott redet in seiner Arbeit „Die Verwandlung“ zunächst mit einem Wischmob, bevor er sich allmählich in einen Käfer transformiert. Kafka wird sogar zitiert, eigentlich aber von hinten aufgerollt. Denn Schamlott spielt einen Tatort-Reiniger, der bei der Arbeit eine riesige Käferleiche entdeckt. Zwischen ihm und seinem Kollegen entwickelt sich ein Dialog, der sich schnell vom Praktischen ins Philosophische verschiebt. Es ist eine kurzweilige halbe Stunde voller Situationskomik, in der Schamlott Mob, Maske, Handpuppe, Früchte und Finger bespielt. Wie er wie von innen gesteuert beide Arme über den Kopf zieht und sie zu Fühlern werden, das bewegt und beeindruckt.

Was denkt eigentlich die Venus von Willendorf über sich als Projektionsfläche im 20. und 21. Jahrhundert? Diese Frage stellte sich Almut Schäfer-Kubelka in „Die Ur-Venus* (*oder Ur-nicht die Venus)“. Die Berliner Venus schaut ihrer 30.000 Jahre älteren Schwester täuschend ähnlich. Und sie ist drei Mal so groß. Einige Zeit ist sie ruhig, hört sich die ganzen Zuschreibungen an, dann aber verlässt sie agil ihren Platz, und ihre Stimme donnert. Die Animation eines archäologischen Fundstücks, verbunden mit einem humorgetränkten Gegenwartsdiskurs, ist hochgradig anregend. Und gipfelt in der völligen Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Die Venus kickt ihren stolzgeschwellten Entdecker mit ihren stämmigen Beinchen einfach weg, und der bleibt fassungslos liegen.

Die Ur-Venus* (*oder Ur-nicht die Venus) (c) Barbara Braun MuTphoto

„Schrott und Sühne“, das sind drei Marionetten und eine Insel aus Elektroschrott. Robert Richters Marionette, ein Mann im mittleren Alter, sitzt vorm Fernseher und schaut einen Puppenporno. Aus einem Mülleimer taucht eine Frau auf und eine zweite strandet auf der Insel. Zwischen den dreien entwickelt sich ein komplett dysfunktionales Beziehungsgeflecht. Die komplexen Gliedermarionetten werden dabei mit maximaler Konzentration bewegt. Sie haben ihren intimsten Augenblick, als ihre Fäden von den Spieler*innen bewusst ineinander verstrickt werden.

Eine kleine Mühle, zwölf Playmobil-Figuren und zwei riesige Rabenflügel. Madita Kuhfuhß und Annika Schaper erzählen die Geschichte von Krabat, dem Müllergesellen, der seinen teuflischen Meister überwindet. In ihrer Version „Zwölf und eine Mühle“ entwerfen sie dazu poetische Bilder mittels Schattentheater, setzen kreativ ihre Stimme ein, vervielfältigen sie und entwickeln betörende Klangteppiche. Faszinierend ist, wie das sanfte Leuchten einer kleinen Taschenlampe Krabats Weg zur Mühle beschreibt und vor dem inneren Auge ganze Landschaften entstehen. 

In „L‘enfant prodique“ von Claude Debussy kehrt ein verloren geglaubter Sohn nach Hause zurück. Auf der Bühne sitzen zehn Musiker*innen. Drei Sänger*innen beherrschen den Raum. Inszeniert wird ein Beschwörungsritual. Tizian Steffen nimmt dazu einen buchgroßen Holzklotz in die Hand. Gott ist da drin, behauptet er mit Mimik und Körpersprache. Durch das Hinzufügen weiterer Baumteile, die durch Rucksackverschlüsse miteinander verbunden werden, wird dieser zu einer veritablen Figur und bleibt trotzdem abstrakt. Das ist anspruchsvoll im Spiel und wird mit der Livemusik synchronisiert. Chapeau vor dieser Herausforderung, der sich die Studierenden stellen. Lässt man sich auf dieses Gesamtkunstwerk ein, wird man für eine dreiviertel Stunde in eine völlig andere Sphäre gebeamt.

Fazit: Große Bandbreite bei der Themenwahl und der künstlerischen Mittel, überzeugend in der Darstellung. Ein guter Jahrgang, bei dem man gespannt sein darf, was da noch kommt.  

 

Rinderwahnsinnige

Spieler*innen: Sophia Jelena Bobić, Paul Kemner, Laura Schulze, Maximilian Teschenmacher

Leitung und Konzept: Laura Schulze und Maximilian Teschenmacher

Sounsdesign: Paul Kemner

Technischer Support: Moritz Ilmer

Puppenbau: Ingo Mewes

Maskenbau: Jan Friedrich

 

Sand fressen

Spieler: Sven Tillmann

Text, Regie, Bühne: Sven Tillmann

 

Die Verwandlung

Spieler: Emil Kollmann und Leon Schamlott

Konzept: Emil Kollmann und Leon Schamlott

 

Die Ur-Venus* (*oder Ur-nicht die Venus)

Spielerinnen: Gerda Pethke, Odile Pothier, Almut Schäfer-Kubelka

Idee, Text und Regie: Almut Schäfer-Kubelka

Puppenbau: Odile Pothier

Licht und Sounds: Florian Feigl

Venus-Stimme: Margret Wübboldt

 

Schrott und Sühne

Spieler*innen: Tanja Linnekogel, Robert Richter und Sophia Walther

Konzept, Regie,

Text und Bühne: Tanja Linnekogel, Robert Richter und Sophia Walther

Puppenbau: Karin Tiefensee

 

Zwölf und eine Mühle

Spielerinnen: Madita Kuhfuhß und Annika Schaper

Konzept und Regie: Madita Kuhfuhß und Annika Schaper

Bau: Madita Kuhfuhß und Ingo Mewes

Ausstattung: Madita Kuhfuhß, Annika Schaper und Monika Pätzold

Dramaturgie: Annika Schaper

 

L'enfant prodique

Lia: Julia Dębowska

Simeon: Dongyhun Lee

Azael: Stansilav Vypovskyi

Priester*innen: Enikő Mária Szász, Tizian Steffen, Emma Teichert

Ministrant*innen: Johannes Bausenwein. Sinan Gülec

1. Violine: Angel Anqui Lai

2- Violine: Yumeng Fu

Viola: Shuhan Xu

Kontrabass: Konstiantyn Kruhliak

Flöte: Lucie Beaufils

Oboe: Lale Nasseri

Klarinette: Laura Frank

Horn:Gaspard Clasen

Klavier: Andrea Miazzon

Eine Produktion des Ensemble ßahar:

Musikalische Leitung: Anastasia Sidorkina

Regie: Kerem Hillel

Ausstattung: Sarah Wolters

Puppenbau: Tizian Steffen & Sarah Wolters

Dramaturgie: Mona Schlatter

Technische Umsetzung: Ingo Mewes

 

Großzügige Unterstützung durch die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin e.V.  

Alle Fotos (c) Barabra Braun - MuTphoto

1 Kommentar
Peter Waschinsky
07.04.2023

HfS Ernst Busch, Berlin: "Freispiele 2023"

Ich habe vier der Stuecke gesehen, auf waschinskys-generalanzeiger.de ueberwiegend gelobt, aber auch deutlich moniert, dass Ernst-Busch-Puppe die Marionettenausbildung seit Jahren schleifen, ja die Methodik gefaehrlich vergessen laesst, wie auch in "Schrott und Suehne" zu sehen. Aber natuerlich, so lange noch irgendwer "komplexe Gliedermarionetten" zu sehen meint, die in "maximaler Konzentration bewegt" werden, ist wohl alles gut, naemlich Kunst. Wie so oft in unserem Genre.
Alles gut ist dann wohl auch beim FIDENA-PORTAL, wo es zu den 20 Kritiken dieser Seite - durchgehend gute - keinen einzigen Kommentar mehr gibt, 
Das entspricht folgendem: Willst du mal absolut sicher sein, keinen Puppenspieler-Kollegen zu treffen (ausser evtl. ein paar Freunde der Macher), geh in eine Puppentheater-Premiere.
Falls hier noch jemand mitliest, verweise ich auf meinen Kommentar zu Puppenth. Halle "Wir sind noch einmal..."

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