Die aktuelle Kritik

Peschke, Connor, Töpfer, Lehr, Kipfmüller & Umney, Stuttgart: "Das stille Leben der verlorenen Dinge"

Von Brigitte Jähnigen

Die monumentalen Maße und die Atmosphäre des Projektraumes Kunstverein Wagenhalle in Stuttgart eignen sich perfekt, um Theaterbesucher*innen auf eine surrealistische Reise zu schicken. Die berührend intime Produktion mit Mitteln des Objekttheaters, der bildenden Kunst und Soundcollagen könnte eine spannende Herausforderung für Festivals sein.

Fast 450 Quadratmeter groß und annähernd acht Meter hoch ist der Projektraum Kunstverein Wagenhalle. Ein perfekter Ort für eine so große Installation, wie sie die Künstler*innengruppe produziert hat. Und „ein Glück“, wie Regisseurin Anna Peschke sagt. Durch die enorme Raumhöhe ist die Installation auf zwei Ebenen erlebbar.

Dabei hat alles eher klein begonnen, nämlich in einem Schrebergarten in Berlin, 2019. William Connor schrieb hier sein literarisches Werk „The quiet living of lost things“. Gemeinsam mit der Theaterwissenschaftlerin Anna Peschke näherte er sich den Figuren an. Während eines Recherche-Stipendiums des Goetheinstitutes Wellington/Neuseeland entstand in einer alten Schafscheune eine erste Rauminstallation. Auch sie wurde zu einem „verlorenen Ding“ – einen Tag vor Eröffnung wurde über Neuseeland der komplette Lockdown verhängt. 2020 kam die Stuttgarter Figurenspielerin Antje Töpfer zum Projekt hinzu und im Oktober 2021 begannen schließlich die konkreten Arbeiten zur Installation mit vierzehn Stationen (Kapiteln genannt) an dreizehn Orten im Projektraum Kunstverein Wagenhalle Stuttgart.

Doch was gibt es hier zu erleben? Zunächst befindet sich die zuschauende Person in einer Art Schule: Frontal zur Tafel sitzt eine schmale, kindgroße Puppe auf einem Stuhl, das zarte Gesicht vom üppigen Haar verdeckt. Das Kind scheint sich im tonnenförmigen Raum, gebaut aus Holz, Metallstäben und derben Fäden, zu verlieren. Die Stimme des Erzählers vom MP3-Player berichtet aus der Sicht des Kindes – eines Mädchens namens Lilly. Ihre nicht sichtbaren Mitschülerinnen mobben sie, denn Lilly fehlt ein Arm. Wer wird sie je lieben, wer sie begehren, so unvollständig wie sie ist?

Lillys Ausgrenzung und eine fühlbare Einsamkeit begleiten das Publikum auch in der zweiten Station, dem Schlafsaal mit fünf Bettchen. Lillys existenzielle wie essenzielle Fragen sind auf handgeschriebenen Zetteln zu lesen: Wer ist meine Mutter, wer ist mein Vater, habe ich Geschwister, wo ist mein Arm? Bilder an der Wand zeigen keine Verwandten. Krakelee und Schmuck verstecken die wahre Identität der Porträtierten - Lilly lebt in einem Waisenhaus. Von einer Soundcollage in wechselndem Dur und Moll, von Wind- und Wassergeräuschen begleitet, geht es durch einen schlauchähnlichen, sparsam beleuchteten Gang weiter in die „Wäscherei des Lebens“. Ursula, die Wäscherin, schrubbt Lilly – und nicht nur ihr – den Staub des Lebens vom Rücken. Verführerisch klingt die Stimme des Erzählers, es riecht nach Desinfektionsmittel. Konsequent in Weiß gehalten sind Vorhänge und die jungfräulich anmutende altertümliche Mädchenwäsche. Wassertropfen fallen in Zuber, das Schrubben schmerzt. Aber ohne Flecken zu sein, sagt Ursula, ist auch kein Leben. Jetzt weint Lilly zum ersten Mal, seit sie denken kann.

Und weiter geht die Reise, märchenhaft, surrealistisch in ihrer Stimmung, mal schwebend, mal bedrückend, erzeugt durch diese Melange aus Worten, Klängen und Bildern. Immer wieder klingelt ein Telefon, eine Art Nabelschnur als Verbindung zwischen Tochter und Mutter. Die surrealistische Atmosphäre ist hier Folge eines Schicksalsschlags: Weil es den Normen nicht genügt, erlebt ein Mädchen Ausgrenzung als notwendiges Muss seiner Entwicklung. Es sind die traditionellen Prüfungen des Menschwerdens, wie sie exemplarisch im Märchen erzählt werden. Und es gibt genügend Gänsehautmomente, in denen das assoziative Spiel böse Blüten in der Fantasie des mitreisenden Publikums treibt.

Da ist der „Organist“ mit seinem Laden der skurrilen Dinge. Ein faltiges Männlein, erschöpft in einem Sessel lümmelnd, mit aufgeknöpfter Hemdleiste. Darinnen kein Herz, darinnen eine verwachsene Knolle. Der „Organist“, begleitet von Spieluhrklängen (vielleicht ein Verwandter von Pate Drosselmeier aus ETA Hoffmanns romantischer Dichtung ?), betreibt einen Organhandel. Augäpfel aus St. Petersburg, Harnblasen und Lymphdrüsen, eine gemischte Kiste mit Schamhaar und Haarsträhnen in allen Farbschattierungen stehen zum Verkauf. Lillys Haarfarbe fehlt. Ist es perfide oder ein gönnerhaftes Ansinnen? Der Mann bietet einen Tausch an: einen Arm gegen ihr Haar. Lilly nimmt an und verlässt nach dieser Initiation das skurrile Raritätenkabinett. Im Spiegelbild: Sie selbst als „kurzhaarige Kriegerin“.

Über eine Eisenleiter erklettert man als zuschauende Person zum Finale einen zauberhaften weißen Foliensee. Hier fährt Lilly in einem Boot ihren grade erst gefundenen Bruder in ein neues, gemeinsames Leben. Am Ende steht der/die Zuschauer*in vor den Regalen mit den verlorenen Dingen: ein Föhn mit einem Fellkopf, eine Violine mit zwei Hälsen, eine Zopfpuppe mit einem Hühnerfuß, Eintrittskarten mit dem Vermerk „Konzert abgesagt“, unzählige Zellklumpen in verschlossenen Gläsern, Föten in Setzkästen, eine nicht aufzählbare Menagerie von „Misserfolgen des Lebens“. Hier wird Lilly das Geheimnis ihres Lebens erfahren, ihren Vater treffen und Mutter und Bruder durch ihre neue innere Stärke retten. Ein großes Schiff aus Holz neben der Ausgangstür des Projektraumes verabschiedet die Besucher*innen. Zeit, um über die Worte der Mutter nachzudenken: „Du und ich, wir hatten nur einen Tag miteinander, ehe ein Unfall uns auseinanderriss, aber er hatte alles, Geburt, Leben und Tod.“ Eine universelle Erkenntnis von der Kostbarkeit des Augenblicks.

---

Eröffnung: 2.12.2021

Konzept: Anna Peschke, William Connor

Installation: Antje Töpfer, Anna Peschke, Uwe Lehr

Sound: Milena Kipfmüller, Chris Umney

Text und Sprecher: William Connor

Produktionsleitung: Uwe Lehr

Fotos: Lukas Yves Jakel

Das Projekt „Das stille Leben der verlorenen Dinge“ ist gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, den Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e.V. aus Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg und des Kunstverein Wagenhalle e.V.

0 Kommentare

Neuer Kommentar