Die aktuelle Kritik

Unidram 2018

Von Jessica Hölzl

Das Festival, das sich als Plattform für zeitgenössisches visuelles Theater versteht, hatte in diesem Jahr seine 25. Ausgabe.

UNIDRAM, ein Festival mit besonderer Tradition, eine „Zukunftswerkstatt“, „die dem kreativ-innovativen Potenzial freier Theatermacher eine Plattform bietet für zeitgenössisches visuelles Theater“ ¹. Zum 25. Mal jährte sich die UNIDRAM 2018 in Potsdam, ein Standort, der sicherlich das ausgewiesene Selbstverständnis, als „Begegnungsfestival an der Schnittstelle zwischen Ost- und Westeuropa“² mit begründet. Im Vorwort zur diesjährigen Ausgabe beschreibt das Festivalteam „Körperbilder“ als „eine Konstante all dieser Jahre, […] anhand derer sich soziale, psychische, technische und kulturelle Codes samt ihrer Veränderungen anzeigen lassen.“ Der „Körper als Protagonist[…]“³ bildet ein zentrales Motiv in den zum Jubiläumsfestival geladenen Stücken und wird auf unterschiedliche Arten verhandelt.

Mit bezauberndem Spiel und multimusikalischer Untermalung erzählt „Tria Fata“ der Companie La Pendue die Geschichte einer alten Dame, die nicht sterben will. In unnachahmlicher Komik ringt die Todgeweihte Madame La Mort den letzten Willen gegen die Anzahlung eines Unterschenkels ab und nimmt das faszinierte Publikum mit auf eine Reise durch ihr turbulentes Leben. Eine einzige Spielerin wechselt zwischen Masken, an Kopf und Extremitäten geführten Gliederpuppen und Schattentheater hin und her, während ein virtuoser Musiker sie an Schlagzeug, Akkordeon, Klarinette und Saxophon begleitet. Wahrheit und Fiktion durchmischen sich, bitterböser Witz sorgt für großes Gelächter in den Rängen, wenn die Geburt der alten Dame als Selbstverstümmelung mit Stichsäge und Tackernadeln präsentiert wird. Rohe Gewalt als derber Scherz, das Leben ein „theatre des métamorphoses“ und so reihen sich kleine und größere Ereignisse aus dem Leben der früheren Hebamme aneinander und zeichnet das Bild eines sehr patenten Persönchens, das dem Sterben die Stirn zu bieten vermag: „Sehen Sie, Madame La Mort, eigentlich sind wir uns gar nicht so unähnlich. Ich habe den Menschen ins Leben geholfen und Sie – naja – sie verbringen ihr Leben damit, den Menschen das Leben zu nehmen.“ Zum Schluss wird dem Tod selbst der Garaus gemacht: Kopflos und seiner Sichel entledigt wird er als machtlose Handpuppe bloßgestellt und von der Spielerinnenhand gestülpt – so einfach ist das.

Mit umgekehrten Vorzeichen gibt „DEEP“ von Daan Mahot in zehn Minuten Einblick in eine Welt, in der sämtliche Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden. Das Publikum blickt in einen tiefen Schacht auf einen Mann, der an seinem Schreibtisch zu sitzen versucht und dabei zur Decke gezogen wird. Ohne Kontrolle über das, was mit ihm geschieht, krallt er sich am Tisch fest und seine Haare stehen ihm zu Berge, während der Wecker rückwärts läuft. Als ein starker Regen sein Zimmer flutet, klettert er auf die Schreibtischunterseite und verwandelt ihn in ein Ruderboot, sodass das Publikum nun das Geschehen von unten weiterverfolgt. Der technisch so konsequent durchgespielte Perspektivwechsel erheitert ungemein – und hinterlässt so manche Zuschauer_innen bis zuletzt verblüfft ob der gekonnt verwirrenden Logik der gezeigten Welt.

Die Frage nach körperlicher Gewalt und deren Inszenierung wird am Donnerstagabend in Joshua Montens „Freude“ und Ariel Dorons „Besuchszeit vorbei“ zeitgleich untersucht. Während „Freude“ sich die ästhetisierende und formalisierende Wirkung tänzerischer Choreographie zu Nutze macht, um der Faszination körperlicher Gewalt und der Funktionsweise von Schaulust nachzugehen, stellt „Besuchszeit vorbei“ die rohe Gewalt in einer Versuchsanordnung mit Puppen aus, die das Publikum immer neu zwingt, Haltung (im Raum) zu beziehen und seine Position als passive_r Zuschauer_in heftig provoziert. Der brutale Umgang der Spieler_innen mit allen Arten von Fadenpuppen, Gliederpuppen, überdimensionalen Plüschkatzen und kleinen Handpuppenschweinchen – um nur eine Auswahl zu treffen - kann einerseits als konkrete Handlungsaufforderung gelesen werden, die andererseits kontroverse Dynamiken im Publikum evoziert und dabei die grundlegenden konstitutiven Bedingungen des Figurenspiels selbst in Frage stellt.

Auf ganz andere Weise rabiat geht Laurent Bigot mit den Artist_innen seines „Petit Cirque“ um. Wie ein Dompteur sitzt er hinter der Miniaturmanege, ordnet Fäden, drückt Knöpfe, zieht Drehkreisel auf und gibt dem kleinen Gummikletterer einen Schubs in die richtige Richtung. Zwischen Schattenspiel und Seiltanz lenkt er mit barschem „Allez-hopp“ die Bahnen seiner oft widerspenstigen Figuren über den runden Manegentisch. Was zunächst als Nebeneffekt erscheint, wird im Laufe der Vorstellung immer mehr zum möglichen Zentrum des Geschehens: Jedes Geräusch, jeder Klang, den aufziehbare Hamster, eine Plastikspinne am Hochseil und drehende Brummkreisel von sich geben, wird über winzige Tonabnehmer verstärkt und vom Zirkusdirektor zu monströsen Störklängen abgemischt. Die kleinen Artist_innen erscheinen immer mehr als Mittel zum Zweck, deren eigentliche Bedeutung die Erzeugung höchst dissonanter Klängen im Sinne des Maestro ist, eine Folter, der sie sich nach Kräften zu widersetzen versuchen.

Die vier Dompteure in „π Ton“ hingegen stehen reglos um ihr Geschöpf herum, das im Kunstraum mehrmals täglich für 25 Minuten auf unkontrollierbare Bewegungsreise geht. Aus unzähligen Gummireifen setzt sich die gigantische schwarze Schlange zusammen, in deren Inneren fünf Motoren die Glieder rotieren lassen. Diese Rotation erzeugt Bewegung: Die einzelnen Abschnitte wälzen sich übereinander, türmen sich auf und klatschen mit einem heftigen Geräusch auf den Boden. Mittels komplexer Sensorik erzeugt das Objekt dabei live Klänge und Geräusche, die aus den Lautsprechern der vier Wärter dringen. Zunächst reglos gerät es langsam ins Rotieren und seine Hydraulik produziert dabei pfeifende Geräusche, die an Atem erinnern. Mit wachsender Bewegung treten dumpfe Bässe, Untertöne und mechanische Klänge hinzu. Das Ding ohne Kopf und Augen wirkt unglaublich lebendig, bäumt sich auf und treibt das Publikum mit seinem massiven Leib an die Wände des kleinen Raums. Nach Ende der Vorstellung liegt es wieder still da. Ehrfurchtsvoll verlassen die Zuschauer*innen den Raum, berühren im Vorbeigehen scheu und doch neugierig die Glieder des seltsamen Wesens, das immer noch einen Geruch von Gummi verströmt.

Mit gleich zwei Deutschlandpremieren sind AKHE auf der UNIDRAM 2018 zu Gast. Das Engeneering Theatre setzt die Körper der drei Performer ins Zentrum des Geschehens, die sich ihrem Material sehr physisch nähern und das Spiel mit (drohender) brachialer Gewalt zum Prinzip werden lassen.

In „Demokratie“ werden die Leiber zu indirekten Pinseln des Kunstmarkts, mit deren Hilfe aus Öl die russischen Buchstaben ‚демократия ‘ auf Sperrholzplatten gedruckt und anschließend signiert zum aktuellen Ölpreiskurs an das begeisterte Publikum verkauft werden. Diesem Augenzwinkern am Ende der Vorstellung geht ein sehr beklemmender Prozess voraus, in dem die drei Performer unter politischen Propagandareden vom Tonband zunächst fünf Brote mit riesigen Messern traktieren und sich Nasen- und Ohrenlöcher mit Brotklumpen verstopfen, um dann vollständig in ihren Ölfässern unterzutauchen. Die daraus entsteigenden, verklebten, tropfenden Körper sind bedrückend anzusehen und schieben sich mühsam über die mit Öl überschwemmte Bühne. Wummernde Bässe unterstreichen die gewaltvolle Atmosphäre des Stückes, welches trotz oder gerade durch seine erheiterliche Wende einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, der mit einer sehr körperlichen Empfindung von zeitlicher Überkommenheit, politischer Unsicherheit und zukunftsbezogener Resignation einhergeht.

Das Gegenstück „Diktatur“ kommt nicht nur den Akteuren physisch sehr nahe, sondern verschont auch die ersten beiden Publikumsreihen nicht mit dem die Bühne überströmenden Schaum. Auf einer sehr ästhetisch warm-gelben Bühne mühen sich die drei Performer mit überdimensionalen Holzlatten ab, die sie mit vollem körperlichen Einsatz zu zerstören suchen. Die erfolgreiche Machtübernahme wird mit großen Gesten und Posen zelebriert, eine brennende Klorolle und dichte Pelzmützen sind sarkastische Symbole von Macht und Männlichkeit. Doch auch diese Gesellschaftsordnung wird gestürzt: Schaum flutet die Bühne und ertränkt die kleinen Diktatoren, die vergeblich versuchen, ihren Thron mit übereinander gestapelten Tischen und Stühlen zu erhöhen. Schließlich stürmt eine Horde anarchischer Widerständler auf den Platz, schlägt das gesamte Bühnenbild kurz und klein und zu heftigem Techno feiern schließlich alle zusammen die neue Weltordnung inmitten einer zerstörten Bühne auf einem überdimensionalen fünfzackigen Stern, der als Mittelpunkt des neuen Regime aufgestellt wurde.

Umsturz, Befreiung und Revolution sind ebenfalls zentrale Themen in der Produktion „Game Changer“ des AURA Dance Theatre. In drei Akten wird die zunächst streng formalistische Gestaltung. die wie eine Hommage an Oskar Schlemmers Triadisches Ballett wirkt, schrittweise aufgebrochen. Zu live produzierten elektronischen Klängen und Gesang bewegen sich die durch geometrische Kostüme in Schwarz-Weiß deformierten und gesichtslosen Körper beinah schwebend über die Bühne und wirken wie fremdgesteuerte Puppen, die von den Formen ihrer Umrisse vollständig dominiert werden. Neonröhren umzäunen das Kollektiv, aus denen Einzelne immer wieder auszubrechen suchen. Das Spannungsverhältnis zwischen Masse und Individuum wird in strengen Bewegungsabläufen und beinah maschineller Körpersprache verhandelt, „but there is light in the darkness – there is always light in the darkness“. Der strengen Kostümierung entledigt tragen die Tänzer*innen grellbunte Neonunterwäsche, das Stück entwickelt sich vom figuralen Spiel Richtung Aerobicperformance. Die Dynamik der Gruppe steht im Vordergrund, Energie zwischen zwei und mehreren Akteur*innen wird ausgelotet und als mächtiges Mittel der Bewegung entdeckt. Die radikale Befreiung mündet in einer Improshow, in der sich die individuelle Körper-Sprache jeder*s Einzelnen der beeindruckenden Tänzer*innen entfaltet. Der kollektive Befreiungsschlag schließt mit tosendem Applaus.

Schließlich, und das ist nicht zu übersehen, ist die UNIDRAM 2018 zugleich auch eine Revue über 25 Jahre Festivalgeschehen. Markige Sprüche aus verschiedenen Stücken und in dieser Zeit entstandenen Presseartikeln zieren das Gelände der Schiffbauergasse. Zwischen T-Werk und Festivalzelt dienen alte Autos als Projektionsfläche für Videoinstallationen, beim Blick ins Innere eines Fahrzeugs finden sich Rezensionen verschiedener Arbeiten, die in 25 Jahren UNIDRAM gezeigt wurden. Einen interaktiven Überblick bietet die Jubiläumsausstellung im Kunstzentrum. Unterschiedliche Medien schaffen Zugänge zur Dokumentation des Festivals, es gibt Bildschirme mit wechselnden Fotos, Videoprojektionen, aber auch eine Reihe klassischer Fotoalben, die die Dokumentation der UNIDRAM-Jahre 1993-1999 enthalten. Steigt man auf das mitten im Raum aufgestellte Fahrrad und tritt in die Pedale, so wird eine Videoprojektion mit Zusammenschnitten aus den letzten 10 Jahren Festivalgeschehen angetrieben. Per Gangschaltknopf lässt sich das Jahr bestimmen. Besonderer Gag, der für die Anstrengung entlohnt: Um von einer Jahresübersicht zu nächsten zu gelangen, führt die Reise über verschiedene Wege, die es zu erradeln gilt. So wird der tüchtige Besucher auf eine interaktive Reise auf dem Moped, im Boot und sogar am Meeresgrund mitgenommen. Das Reisemotiv wird mit den liebevoll ausgestalteten Koffern im Obergeschoss wieder aufgenommen, die verschiedene Gimmicks wie einen signierten Gemüsekorb, eine „post-dramatische“ Karten-Versandstelle und sogar ein Koffertheater zum Selberspielen enthalten.

Rück- und Ausblicke, Fragmentierung und Neuverortung, frühere Topoi und zukünftige Schwerpunkte – Die UNIDRAM 2018 bot eine eindrucksvolle Reise durch Zeit und Raum, bei der das Konzept Körper gelungen als Dreh- und Angelpunkt objektzentrierten Spiels aus unterschiedlichen Perspektiven auf Funktion, Materialität und Kontext beleuchtet und begriffen, bespielt und angegriffen, zerlegt und neu zusammengesetzt wurde. Man darf gratulieren - und gespannt sein!

 

Mit:

AKHE (Russland): Mister Carmen

Ariel Doron (Israel / Deutschland): Besuchszeit vorbei

TAMTAM objektentheater (Niederlande): Rostige Nägel & Sonstige Helden

Daan Mahot (Niederlande): DEEP

Joshua Monten (Schweiz): Freude

Laurent Bigot (Frankreich): Le Petit Cirque

Cod.Act (Schweiz): π Ton

AKHE (Russland): Demokratie

Teatro Koreja (Italien): Frame

AURA Dance Theatre: Game Changer

La Pendue (Frankreich): Tria Fata

Vẽra Ondrašiková & collective (Tschechien): GUIDE

AKHE (Russland): Diktatur

Simon Mayer (Österreich): Oh Magic

Dorothee Metz (Deutschland): Von den Dingen der Natur

Antoine Birot (Frankreich): The Need to move forward

 

KONZERTE

Pulsar Trio (Deutschland)

Masaa (Deutschland)

Aerodice (Deutschland)

Cosmo Klein TRIO (Deutschland)

Iva Nova (Russland)

 

1 https://www.unidram.de/de/festival/ueber-unidram
2 https://www.unidram.de/de/festival/ueber-unidram
3 Alle Zitate: Einleitungstext des UNIDRAM-Teams im Programmheft 2018. S. 8-9

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