Die aktuelle Kritik

Dekoltas Handwerk: „Imprint (Versuche zur Abwesenheit)“

Von Petra Bail

Jan Jedenak zeigt am Fitz! Stuttgart eine Frequenz der Stille.

Das, was sich hinter den Kulissen unserer visuellen Wahrnehmung abspielt, übt eine magische Anziehung auf Jan Jedenak aus. Er schafft es auf raffinierte Weise mit seinem Ensemble, das in wechselnder Besetzung unter dem Namen Dekoltas Handwerk firmiert, dem Unsichtbaren ein Gesicht zu geben. Die Vergänglichkeit und die Erinnerung sind diesmal sein Thema. Mit der Uraufführung seiner jüngsten Produktion, „Imprint (Versuche zur Abwesenheit)“, eröffnete der Figurenspieler und Regisseur die Reihe „Remember Me“ am Fitz! Stuttgart. Der Titel ist analog zu einer gängigen Praxis im Verlagswesen zu sehen. In dem Stück steht „Imprint“ für einen nicht mehr existierender Mensch, dessen Abbild post mortem verwendet wird.

Was passiert, wenn ein Mensch stirbt? Er verschwindet. Im viktorianischen Zeitalter hielten die Hinterbliebenen die Erinnerung lebendig, indem sie die Toten ablichten ließen. Post-mortem Fotografien hatten im ausgehenden 19. Jahrhundert eine große Bedeutung zur Trauerbewältigung. Eine andere Möglichkeit, ein Abbild für die Nachwelt zu schaffen, ist die Totenmaske. Schon im alten Ägypten wurde diese spezielle Form des Bewahrens gepflegt. Von diesen beiden Kultformen des „ewigen Antlitzes“ ließ sich Jedenak für seine mystische, ganz in schwarz-weiß gehaltene Produktion inspirieren. Manch einer mag das gruslig finden. Tatsächlich spüren die drei Spieler dem flüchtigen Augenblick des bildhaften Festhaltens auf sehr ästhetische Weise mit lebensgroßer Puppe, Masken und Tüchern nach. Die Stimmung ist düster. Aber der Tod ist ja auch nicht heiter. Umso verblüffender, dass einige kleine, komische Momente das Publikum blitzlichtartig belustigen durch kleinen Verrenkungen oder einer basserstaunten Mimik.

 

I am glass

Jan Jedenak arbeitet mit einem breiten Vokabular von Symbolik, die viele Bedeutungsschichten ins Spiel bringen. Ein Sarkophag dient als Tableau für okkulte Handlungen, wie bei einer Geisterbeschwörung, ist aber auch praktischer Rahmen für die letzten Aufnahmen, in den die Wesen gestellt, gelegt oder gesetzt werden. Mensch und Puppe, die synchron in entsprechende Posen gebracht werden, verdeutlichen die Tradition, dass man die Verstorbenen möglichst lebendig in Szene setzte für das Erinnerungsfoto, manchmal sogar mit nahestehenden Personen, Freunden oder der ganzen Familie. Auch das stellt das Ensemble in Vanitasmanier mit der Puppe nach, in nur Sekunden dauernden Sequenzen, von grellen Blitzlichtern unterbrochen, mit einem oft beunruhigenden Unterton. Die eigenen Totenmasken werden aufgesetzt. Im Scheinwerferkegel gehen die menschlichen Körper einen variationsreichen Dialog mit der beweglichen Materie ein. Dabei wird wenige Sprache verwendet, der „Frequenz der Stille“ nachgespürt, die laut genug ist, „um alles andere zu dämpfen“.

Die zitierte Textpassage „I am glass“ ist eine schöne Hommage an den verstorbenen Fotografen und Autor David Wojnarowicz. Zwei Spieler tauchen mit dem Kopf in eine randvolle Wasserschüssel. Sie halten das sogar erstaunlich lange aus. Auftauchend reißen sie lautlos, wie Ertrinkende, den Mund auf, ein Abspielgerät wird sichtbar, Textzeilen mechanisch abgespult.

Die collageartige Inszenierung macht auf metaphorische Weise auch deutlich, dass das Leben beschützenswert ist, wie die Eingangsszene zeigt, in der die drei Spieler die zu Schutzschalen geformten Hände achtsam vors Gesicht legen. Nur die Lebenden können die Toten sichtbar machen. Geräusche, die Erinnerungen wecken an Wind, an knarzende Schiffstaue und das Dröhnen einer Computertomographie begleiten das dynamische Spiel. Synthetische Klänge und eine sagenhafte Beleuchtung, mal gleißend hell, mal mystisch abgefächert, erlauben immer wieder neue Perspektiven auf die abstrakten Szenerien, die keinem stringenten Handlungsmuster folgen.

Energiegeladene, zuckende Leiber zu anfangs harmonischen Klängen, die sich zur Kakophonie steigern, erzeugen am Schluss Qualen. Auch bei den Zuschauern. Die Lautstärke steigert sich ins kaum Erträgliche. Da gibt sogar die Puppe im Hintergrund den Geist auf und kippt einfach um. Am Ende viel verdienter Applaus für ein kraftvolles, leidenschaftliches Spiel.

 

 

Uraufführung: 3. Mai 2019

Spiel: Anne Brüssau, Gildas Coustier, Sonia Franken
Bühne, Ausstattung, Regie: Jan Jedenak

Dramaturgie: Jonas Klinkenberg
Puppenbau: Janusz Debinski
Kostüm: Judith Schöntag
Musik: Julian Siffert
Licht: Marius Alsleben, Jan Jedenak

Eine Koproduktion mit dem FITZ – Theater animierter Formen Stuttgart, Schaubude Berlin und LILARUM Wien. Gefördert durch die Stadt Stuttgart, den Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e.V. aus Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg und den Fonds Darstellende Künste e.V.

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