Die aktuelle Kritik

machina eX: "Toxik"

von Tom Mustroph

Das Problemlöser-Spiel im HAU eröffnet neue Horizonte zum Umgang mit Objekten im Theater.

 

Anfassen, Mitmachen, Dinge zum Sprechen Bringen

Ein Polizeirevier, düster genug gehalten und mit genau dem Retro-Appeal aufgeladen, um sich in einen Fassbinder-Film versetzt zu fühlen. Am Schreibtisch döst ein so schmierig und erschöpft wirkender Beamter wie ihn das Klischee der Detektivromane vorschreibt. Ein Dutzend Personen, die in jedem der etwa 90minütigen Durchläufe Zuschauer und Mitspieler zugleich sind, wird in diesen Raum von einer zwischen Leben und Tod schwebenden Patientin geführt, die einstmals als Polizistin aktiv war. Wer mag, darf im Theater-Spiel "Toxik" der Gruppe machina eX nun ihre letzten ungelösten Fälle aufklären, um ihr wieder ins Leben zurück zu verhelfen.

Ein Orpheus & Eurydike-Spiel also. Freilich ist anstelle des Handlungsbeschleunigers Liebe jetzt nur die Neugier der Treibstoff. Aber er treibt. An die Wand des Polizeireviers zum Beispiel. Dort angepinnt sind mehrere Gegenstände in Plastiktüten: Tonbandkassetten, eine Patronenhülse, eine Quittung, ein lädiertes Handy. Die Objekte sind Spuren. Man greift sie sich, versucht sie zu analysieren, mit Händen und Augen zunächst. Die Kassetten erinnern die älteren Teilnehmer an Nächte vor dem Radio, in denen man die Moderatoren verfluchte, die in die Anfänge und Enden der Lieder hineinsprachen, während man doch vorhatte, sie aufzunehmen. Das halbzerstörte Handy ruft erlebte wie überlieferte Missgeschicksgeschichten ins Gedächtnis: ins Wasser gefallen, vom Auto überrollt, voller Zorn an die Wand geworfen.

Schnell wird man sich aber wieder der aktuellen Aufgaben bewusst und sucht Aufklärung bei all den anderen Dingen, die sich in Reichweite befinden: Aktenordner, Computer, Kassettenrekorder, Scanner, Telefone, Taschenlampen. Je nach Geschick und Koordinationsvermögen kommt die Gruppe weiter. Sie wird an Tatorte geführt: eine Teestube mit Internet-Terminals, eine Gartenlaube, ein Badezimmer. Sie landet auch in einer schummrigen Bar. Überall gibt es neue Hinweise. Hinweise, die helfen, Hinweise, die ablenken.

Insgesamt vier Performer sind in den diversen Räumen aktiv, als Polizistin-Patientin, als deren undurchsichtiger Ex-Chef, als verwirrte wie verwirrende Nachbarin, als sinistrer Revisor. Weitere tauchen in Videos auf, als Nachrichtensprecher etwa und Staatsanwältin. Sie animieren die Mitspieler, die passende Kugel zur Patronenhülse zu suchen, Codes am Computer zu knacken und die benötigten Medikamente zusammenzustellen. Zuschauer sind hier aktiv, sie müssen Hände und Köpfe einsetzen. Das hat seinen Reiz. Um zum Erfolg zu kommen, muss die Gruppe gut zusammen arbeiten. Das ist ein weiterer Reiz.

Freilich gelingt es nicht, jedes Rätsel in der zur Verfügung gestellten Zeit zu lösen. Das frustriert im Moment - und ruft zugleich vor Augen, dass Scheitern eine auch aus dem Alltag bekannte Erfahrung ist. Hier erlebt und erleidet man sie in einer zufällig zusammen gestellten Gruppe - und muss lernen, sich das Scheitern einzugestehen und die Enttäuschung zu überwinden; schließlich folgt gleich das nächste Spiel.

Machina eX geht hier ein Risiko ein. Enttäuschte Mitspieler neigen dazu, das gesamte Spiel eher negativ wahrzunehmen. Das schlägt sich durchaus auch in Kritiken ihrer Games nieder, zumal erst gelöste Rätsel dazu führen, dass alle Handlungsstränge in ihren Verknüpfungen sichtbar werden. Im Enttäuschungsmanagment weniger geübte klassische Theaterbesucher sind hier schnell von Computerspiel-Praktikern zu unterscheiden, die pragmatisch und ohne sichtbare Irritation die nächste Aufgabe angehen.

Die Spielform Theater-Game, die machina eX als eine der ersten Gruppen im deutschsprachigen Theater entwickelte, sorgt also für neue, gemischte Zuschauergruppen. In diesem Subgenre, einer Hybride aus Performancekunst, Computergame und Life-Rollenspiel, zeichnet sich die in Hildesheim gegründete Truppe zudem durch eine Hinwendung zu Objekten aus. Bei jedem ihrer Spiele, ob bei der Katastrophenverhinderungsübung "15000 Gray" (2011), dem Science Fiction-Überlebensspiel "Wir aber erwachen" (2012), dem Börsencrasherprobungsparcours "Hedge Knights" (2013), dem Flüchtlingslagereingewöhnungsstück "Right of Passage" (2014) oder eben dem aktuellen Krimi "Toxik", spielen Gegenstände aus dem Alltag sowie technische Geräte aus den letzten 100 Jahren Technologieentwicklung eine zentrale Rolle.

Charakteristisch ist auch die Rückübertragung des Digitalen in das Analog-Haptische, etwa über Lochkarten, Codetabellen aus Papier und Retro-Monitore, die einen ganz eigenen Charme aufweisen. Im Laufe der Zeit sind die Performer zudem routinierter in ihrer szenischen Arbeit geworden, während die Programmierungs- und Technik-Crew sich an immer komplexere Architekturen wagt. Eigentümlich ist zudem der Zuschnitt der Figuren. Aus dem Game-Kontext kommend agieren sie mehr als Avatare, also auf Lebensgröße gebrachte Repräsentationsmasken, und weniger als herkömmliche theatrale Gestalten.

Das führt denn auch zu einer reduzierten Mimik und Gestik, wie man sie aus den durch ihre Rechenleistungskapaziten begrenzten digitalen Spielen kennt. Das irritiert zuweilen konventionelle Theaterzuschauer, die dramatische Substanz vermissen, kommt aber den Rezeptionsgewohnheiten derer, die Emotionen mit Icons verknüpfen, entgegen. Machina eX bietet also diverse Ausblicke in die Zukunft des szenischen Spiels mit Menschen, Objekten und deren Repräsentationsformen.

 

Bis 21. Oktober 2015 im HAU3, Berlin, 19 und 21 Uhr

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