Die aktuelle Kritik

Puppentheater Gera: "Jenseits der blauen Grenze"

Von Jessica Hölzl

Im Rahmen des Stipendiat*innenprojektes der Theater-Stiftung Gera feiert eine Bühnenfassung des gleichnamiges Romans von Dorit Linke Premiere.

„Ich tauche unter, das Geräusch ist noch viel lauter, doch auch unter Wasser kann ich den Schall nicht orten.
Ich tauche wieder auf.
Sie müssen ganz nah sein.“
Hanna

Jenseits der blauen Grenze, da liegt die Freiheit – vielleicht. Zumindest haben Hanna und Andreas große Hoffnung, dem schwierig gewordenen Leben in Rostock von 1989 zu entfliehen, als sie sich auf den Weg machen, um die DDR über die Ostsee zu verlassen. Die blaue Grenze ist eine tosende Soundkulisse, Wellenberge und Wellentäler wechseln sich ab. Dazwischen die Stimmen der beiden Freunde, die sich Mut und Kraft zusprechen, um die 50 km Wasserweg zu schaffen. Die Bühnenwand erscheint in blauem Licht, dazwischen helle Lichtkegel – sind das die NVAs, die nach Republikflüchtlingen Ausschau halten?

2019, das bedeutet auch: 30 Jahre seit dem Fall der innerdeutschen Mauer. Um zu diesem Anlass „die Errungenschaften der Freiheit und Demokratie ins Bewusstsein zu rufen – auch und insbesondere jungen Menschen“, so der Kommentar zum Stück auf der Website, zeigt das Puppentheater Gera eine sehr besondere Inszenierung von „Jenseits der blauen Grenze“. Der gleichnamige Roman von Dorit Linke, 2015 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, ist inzwischen eine beliebte Schullektüre. Immer noch und durch gegenwärtige politische und soziale Diskurse aktuell, nähert sich die Erzählung den Themen rund um die deutsch-deutsche Teilung, politische Systeme und Konzepte möglicher Lebensweisen aus der spezifischen Perspektive der drei Teenager Hanna, Andreas und Jens.

Doppelt besonders wird die Inszenierung durch die Erarbeitung als Stipendiat*innenprojekt der Theater-Stiftung Gera, die jungen Nachwuchskünstler*innen die Möglichkeit gibt, am Haus zu inszenieren.

Gerahmt wird die Erzählung vom Zusammentreffen der inzwischen erwachsenen Protagonist*innen Hanna und Jens, verkörpert von den beiden Spieler*innen Tanja Wehling und Tobias Weißhaupt, die sich in dessen Dunkelkammer alte Fotos anschauen. Durch ein Zoom-In versetzen sich die beiden in ihre Jugendzeit zurück. In virtuosem Figurenspiel zeigen sie zeitlos bekannte Szenen pubertärer Rebellion, Bilder von der ersten unerwiderten Liebe, Schul- und Familienstress und vor allem eine dicke Freundschaft zwischen drei sehr unterschiedlichen Teenagern. 

Die anfangs bis auf einen altertümlichen Overheadprojektor leere Bühne wird von den beiden Spieler*innen virtuos ausgefüllt. Unterschiedliche Mittel, wie aufklappbare Kulissen mit Fenstern und leuchtenden Autolichtern, ein winziges Guckkastentheater, das die Jugendweihe der drei Freund*innen mit Hilfe von Puppenkleidung und bemalten Fingerkuppen darstellt, und der kluge Einsatz von Videoprojektionen schaffen ein buntes Treiben, das zum einen auf wunderbare Weise die Geschichte erzählt, zum anderen das junge Publikum mit vielfältigen Mitteln der Kunst selbst in Bann zieht.

Schon wenn im ersten Bild die typischen DDR-Automobilmodelle als Flachfiguren durch die interaktiven Häuserschluchten Rostocks gezogen werden, begleitet vom organisch erzeugten Motorengeräusch, wird der handlungsweisende zeitgeschichtliche Kontext etabliert, der im Verlauf der Handlung immer stärker in den Vordergrund tritt. Zunächst für die drei Freund*innen Hanna, Jens und Andreas bei ihrem heimlichen Ausflug auf die Dächer eines Hochhauses als abenteuerliches Spiel erscheinend, werden die leitmotivisch überall auftauchenden Augenpaare allmählich zu einer echten Bedrohung. Das jugendliche Hinterfragen gesellschaftlicher Gegebenheiten wird scharf in die Mangel genommen und mit lebensverändernden Konsequenzen bestraft. Die staatskritischen Flugblätter, die Hannas subversiver Opa verteilt, werden schließlich zum Verhängnis: Ausschluss aus dem Olympia-Schwimmkader und Studienverbot. Stattdessen: Zwang zur Fließbandarbeit.

Natürlich reizen auch das glitzernde Haribo-Männchen und die verlockend erotisierende Drei-Wetter-Taft-Werbung – als Schattenspiel im roten Lichtkegel toll dargestellt. Doch wird hier sehr deutlich, dass es viel weniger westliches Überflussversprechen und das Warenangebot des Intershop sind, was die beiden Freunde Andreas und Hanna schließlich zur Flucht zwingt, als vielmehr der dringliche Wunsch nach Freiheit.

Eine beeindruckende Bandbreite figurentheatraler Tricks und Kniffe zeigen Alina Illgens Bühne und Figuren, die es schaffen, das anspruchsvolle junge Publikum für 70 Minuten in ihren Bann zu ziehen. So wechseln die Darstellungsweisen zwischen verschiedenen Formen von Flachpuppen – als Glieder-, Stab- oder Ganzkörperfiguren mit kreisrunden Löchern für das Gesicht der Spieler*in. Aber auch freche Klappmaulköpfe aus Schaumstoff kommen zum Einsatz, die in turbulentem Wechsel mit den Flachfiguren, Spieler*innenkörpern und Kulissen in Bezug gesetzt werden.

Dabei oszilliert das Gezeigte zwischen anarchischem Witz und lakonischer Selbstironie, die, untermalt von dreckigem DDR-Punk, die harte Realität der Erzählung irgendwie aushaltbar machen. Die episodenhaft erzählte Überquerung der Ostsee etabliert sich zunächst akustisch und berichtet schließlich als unscharfes Licht- und Schattenspiel von Andreas‘ Tod. Sehr nah an der literarischen Vorlage schaffen diese Sequenzen durch ihren Bildentzug bedrückende Räume der Imagination und hüllen den Saal in das stille Getöse der Wellen.

Unter der Regie von Marie Bretschneider erhält der Stoff eine zeitgenössische Aktualisierung. Dynamo Dresden taucht da auf – und wird vom jungen Publikum lautstark kommentiert. Jens, „der Sachse“, spricht mit deutlichem Akzent und zieht damit den Spott seiner Rostocker Kumpels auf sich – was im Zuschauer*innenraum des Puppentheaters zum Teil für lautstarke Verteidigungsrufe des heimischen Dialekts der Schüler*innen sorgt. Die Jugendlichen im Raum sind ‚dran‘ am Bühnengeschehen, ‚gehen mit‘, wie man so schön sagt und das ist wirklich eine große Leistung der Inszenierung.

Zurück bleiben mir als außenstehender Beobachterin zum Schluss viele Fragen. Nicht so sehr zur Qualität der Inszenierung selbst – die war wirklich klasse. Nein, vielmehr zur Wirkung oder vielleicht zum Weiterwirken dieses Stoffes bei einem jungen Publikum, in dem mehr als eine Person die auf der Bühne gezeigten Ost-West-Differenzen mit „Scheiß-Wessis“ quittiert hat. Welchen Eindruck hinterlässt die Debatte um DDR, Kapitalismus, Teilung und Wende bei einer Schulklasse, die diese Zeit nicht selbst miterlebt, in der jede*r einzelne aber durch aktuelle Diskurse, das eigene Lebensumfeld und Erfahrungen durchaus eine eigene Meinung zum Thema hat? Welche Bilder bleiben in Erinnerung, wie sehen und bewerten die Schüler*innen die Darstellungen solcher Geschichten und Perspektiven – und wo findet die Anknüpfung an das eigene Erleben statt?

Hier lohnt sich der Austausch im Anschluss an die Aufführung, in der das Puppentheater Gera wieder einmal gezeigt hat, was Theater können kann: Einen tollen Stoff zu einer wirklich guten Inszenierung bringen – und dabei ganz viel Material zum Nach- und Weiterdenken liefern.

 

Premiere am 09.11.2019

Foto: Ronny Ristok

Spiel: Tanja Wehling und Tobias Weißhaupt

Regie: Marie Bretschneider

Ausstattung: Alina Illgen

Künstlerische Mitarbeit Ausstattung: Katja Turtl

Dramaturgie: Caren Pfeil

Regieassistenz: Sophia Walther

0 Kommentare

Neuer Kommentar