Die aktuelle Kritik

Oper Dortmund: „Il barbiere di siviglia“

von Honke Rambow

Befreite Marionetten und eine entfesselte Bühnenmaschine

Als eigenes Genre existiert die Marionettenoper seit dem 17. Jahrhundert. 1674 eröffnete das erste eigene Theater in Paris, Joseph Haydn schrieb einige Opern speziell für Marionetten und auch noch im 20. Jahrhundert entstand György Ligetis Anti-Anti-Oper „Le Grand Macabre“, glaubt man dem Komponisten, ursprünglich für Marionetten. „Il barbiere di siviglia“ von Gioachino Rossini gehört nicht ursprünglich dem Genre an. Die Idee, die Oper als Spiel von Marionetten – menschlichen wie echten – zu inszenieren, geht allein auf Regisseur Martin G. Berger zurück.

In der Mechanik der Komödie und der Musik von Rossini sieht er, wie er im Programmheft schreibt, den Bezug zur Mechanik des Puppentheaters. In das Bühnenportal hat Sarah-Katharina Karl eine weitere erhöhte Bühne hineingebaut, die in der Holzfarbe nahtlos an den Zuschauerraum anschließt. Wenn sich der rote Vorhang öffnet, sehen wir auf der wenig tiefen Bühne die Sängerinnen und Sänger als Marionetten an Fäden agieren.

Petr Sokolov als Barbier setzt die typisch schlacksigen Puppenbewegungen dabei am überzeugendsten um. Graf Almaviva – gesungen und gespielt von Sunnyboy Dladla – kommt mit übertriebenem Make-Up und Wasserwelle (Kostüme: Alexander Djurkov Hotter) fast androgyn daher. Sein Wunsch, dass sich ein Mädchen in ihn verliebt, ohne von seinem Geld und seiner Macht zu wissen, setzt die Komödienmaschine in Gang. Der zwielichtige Figaro sorgt für die passenden Verkleidungen und kennt auch das ideale Objekt des Experiments: Rosina, die von ihrem Vormund Dr. Bartolo (Morgan Moody) gefangen gehalten wird. Der wiederum will ebenfalls Rosina heiraten, um sich ihre Mitgift zu sichern. Erzählt wird die Geschichte in Dortmund nicht nur auf der Marionettenbühne, sondern zwischen den Szenen auch von Hannes Brock, der die zusätzlichen Texte – ganz Märchenerzähler – aus einem in roten Samt gebundenem Buch liest. Brock ist ein überaus erfahrener Entertainer und versprüht auch hier wieder seinen ganzen Charme, doch den humorigen Texten von Martin G. Berger hätte etwas mehr Schärfe und Biß gut getan.

Warum nun Berger die Oper als Marionettenspiel inszeniert, wird gegen Ende des ersten der beiden Akte deutlich: Die fremdbestimmten Puppen lösen sich aus ihren (gesellschaftlichen) Zwängen. Als erster wird Almaviva zum Kasperle, dann zerschneiden alle die Schnüre und versuchen ein Leben in Freiheit. Das bleibt nicht folgenlos: Das gesamte Bühnenbild bricht auseinander, die Obermaschinerie, Beleuchtung und die Podeste spielen verrückt, sogar die projezierten Übertitel verlieren die Fassung. Das Spiel versinkt in einem Chaos der entfesslten Theatermaschine. Im zweiten Akt versuchen die Personen noch ein Umgehen mit ihrer Freiheit zu finden, aber schnell müssen sie erkennen, dass sie dafür einfach nicht gemacht sind. Zuletzt begeben sich alle wieder in die Hände des unsichtbaren Puppenspielers, die Schnüre werden wieder festgezurrt und das Happy-End inklusive Hochzeit zwischen Almaviva und Rosina kann stattfinden.

Angesichts des mißglückten Freiheitsexperiments hätte dieses Happy-End allerdings deutlich schaler und bitterer ausfallen müssen, um das Regiekonzept wirklich aufgehen zu lassen. Auch die Umsetzung der Marionettenbewegungen fallen bei den Ensemblemitgliedern allzu unterschiedlich aus – Aytaj Shikhalizadas Rosina etwa ist mehr mechanische Puppe als Marionette und könnte glatt eine Olympia aus „Hoffmanns Erzählungen“ sein. Tatsächlich gehören die charmantesten Momente des Abends den Puppen von Rachel Pattison und den beiden Puppenspielerinnen Julia Giesbert und Veronika Thieme. Sowohl ihr goldener Putto und das Skelett ohne Beine (beides Marionetten) als auch das merkwürdige sechsbeinige und einäugige Plüschhaustier des Musiklehrers Basilio (Denis Velev), das sie schlicht mit den Händen führen, haben sehr sehenswerte Auftritte. Auch die eindrucksvolle Kettenreaktion im Hause Bartolo, die an die berühmte Arbeit „Der Lauf der Dinge“ der schweizer Künstler Fischli/Weiss erinnert, dürfte auf ihr Konto gehen. Das Regiekonzept von Martin G. Berger hat reizvolle Ansätze.

Das Bild der Menschen als Marionetten ist nicht neu, bietet aber viele Möglichkeiten, die in Dortmund nur unvollständig genutzt werden. Selbst in der Komik wird nicht alles ausgespielt: Warum wird nicht mit dem Verheddern der Fäden gearbeitet, warum nicht einmal die Übermacht des Marionettenspielers gezeigt, oder ein Fehler des Spielers eingebaut? So bleibt „Il barbiere di seviglia“ in Dortmund ein nur zum Teil spannender Versuch über das Marionettentheater – und leider über weite Strecken auch nicht so unterhaltsam, wie er sein könnte und müsste.

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