Die aktuelle Kritik

SV Szlachta: "VYRE"

Von Falk Schreiber

Was ist Mensch, was ist Objekt? „VYRE“ von der Hamburger Performancegruppe SV Szlachta wirft die Frage auf, ob womöglich alles Puppe ist, wenn sich die Welt nach und nach ins Virtuelle verabschiedet.

Clemens hat sich upgeloaded. Der junge Mann hätte seinen Schritt eigentlich ankündigen können, aber jetzt ist es nun mal passiert: Sein Bewusstsein hat er in die Cloud geladen, sein Körper liegt in einem gläsernen Sarg zwischen Leben und Tod. Clemens ist die Basis für eine künstliche Intelligenz, die praktisch alles besser kann, im Vergleich zum fehleranfälligen Menschen. Und die seither in einem geheimen Labor von – gelinde gesagt: wenig vertrauenswürdigen – Wissenschaftler*innen gepflegt wird. Wie jede KI braucht sie allerdings regelmäßigen Input von außen. „Es bringt nichts, eine künstliche Intelligenz zu entwickeln, die sich total abschließt“, heißt es an einer Stelle. Weswegen immer wieder das Chaos in den Raum gelassen wird: das Publikum, das an den Experimenten teilnimmt und so den Algorithmus mit einer chaotischen Struktur füttert.

Die Virtual-Reality-Performance „VYRE“ der Hamburger Medientheatergruppe SV Szlachta hätte eigentlich schon vor einem Jahr Premiere feiern sollen, als Koproduktion mit dem Off-Theater Lichthof, freilich nicht im Theatersaal, sondern in einem von Zeit zu Zeit für Kunstprojekte aktivierten, ehemaligen Schulgebäude in der Wartenau 16 im Osten des Hamburger Stadtzentrums. Dass die Corona-Pandemie die Aufführungen verhinderte, ist nachvollziehbar – SV Szlachta kommen aus dem Umfeld der Immersions-Legenden Signa, und ähnlich wie bei deren Arbeiten geht einem auch „VYRE“ körperlich nahe. Heißt: Pandemiesicher ist hier nichts, auch wenn ständig irgendwas desinfiziert werden muss. Die Desinfektion freilich wird denkbar nachlässig erledigt, wie hier im Grunde alles hingeschludert wirkt. Das ist eine ästhetische Entscheidung – natürlich sind die Hygienemaßnahmen vollkommen korrekt, während die grundsätzlich „bleake“, düster-öde Ausstattung der Produktion einen gegenteiligen Eindruck vermittelt. Das, worum es in Wahrheit geht, ist jedenfalls was anderes.

Auf der Folie des Puppen- und Objekttheaters nämlich bekommt „VYRE“ einen Dreh, der die Performance selbst in Frage stellt. Der Schauspieler*innenkörper wird hier zur Puppe, zur leeren Hülle, die im Sarg liegt und keine echte Funktion mehr hat. Und auch die übrigen Körper verschmelzen mit den Objekten: Die Mykologin (Amanda Babaei Vieira) etwa beschreibt, dass sie ihre eigene DNA nach und nach mit derjenigen der erforschten Pilze synchronisiert. Man selbst vollführt kurz darauf ein Experiment, in dem sich eine organische Struktur selbst zu verdauen scheint – was hier Körper ist und was Objekt, lässt sich irgendwann nicht mehr sagen. An einer anderen Stelle trägt man eine VR-Brille und sieht, wie puppenhafte Wesen vor einem in die Tiefe stürzen. Bis sie sich plötzlich zu fangen scheinen und den Betrachter bedrängen – und in diesem Moment wird der eigene Körper berührt, von den Seiten strömt Hitze auf einen ein. Um eineinhalb Grad habe sich die Luft um einen erwärmt, erfährt man, das ist der Temperaturanstieg, auf den man sich im Rahmen der Klimakatastrophe einzustellen hätte, halb so schlimm – oder?

Schließlich tritt man in Dialog mit der künstlichen Intelligenz selbst. Und weil der Mensch sich so etwas wünscht, bekommt diese ein menschliches Antlitz, einen Avatar. „Hübsche Brille!“, schmeichelt das Objekt einem, „Dankeschön“. Eine Zuschauerin lässt sich allerdings nicht einlullen und geht ans Eingemachte: „Vermisst du deinen Körper?“ Sex? Essen? Nein. Warum auch?

Aus theatertheoretischer Sicht ist „VYRE“ extrem spannend, inhaltlich aber trägt das Konzept nicht über die rund zweieinhalb Stunden. Die Struktur des Abends ist an Game-Theater angelehnt: Zunächst bekommt man einfache Aufgaben gestellt, wie die, eine Gewebeprobe aus dem Nebenraum zu holen, bald aber gehen die eigenen Aktionen in höhere Biohacking-Sphären. Doch echte Figuren entwerfen SV Szlachta so wenig wie eine Story – dass der*die nonbinäre Wissenschaftler*in Pi den zur KI gewordenen Clemens vermisst, ist gut und schön, aber eine Geschichte entwickelt sich daraus nicht. Dass die KI dem Menschen in jeder Hinsicht überlegen ist, hat man schnell verstanden, die Bedrohlichkeit, die in dieser Erkenntnis liegt, wird aber nicht ausgespielt. Nur ganz kurz ahnt man, wie gefährlich es werden könnte, wenn Mensch und Avatar, wenn Schauspieler*in und Objekt nicht mehr unterscheidbar sind: Als Wissenschaftlerin Fred (Kotka Gudmon) etwas erklärt und plötzlich ihre Stimme zu leiern, ihr Blick zu flackern beginnt. Eine Sekunde, dann ist wieder alles okay. Ist Fred abgestürzt? Ist Fred überhaupt ein Mensch, oder eine Art Roboter? Hier scheint kurz die Verwischung zwischen den Sphären auf, aber wirklich aufgelöst wird dieses Gefühl der Verunsicherung nicht. Dennoch ist „VYRE“ ein wichtiger Schritt fürs Puppentheater. Weil der Abend die Frage aufwirft, ob womöglich alles Puppe ist, wenn sich die Welt nach und nach ins Virtuelle verabschiedet. Ein ungemütlicher Gedanke.

 

VYRE

von und mit: Amanda Babaei Vieira, Christopher Ramm, Lorenz Vetter, Wanja Neite und Kotka Gudmon 

Konzept, Recherche, Installation: SV Szlachta

Sound: Quirin Nebas mit Lorenz Vetter

Animation: Lorenz Vetter

Technik: Lorenz Vetter 

Robotik: Sebastian Arnd 

Kostüm: Amanda Babaei Vieira

 

VYRE entsteht in Kooperation mit dem LICHTHOF Theater Hamburg und wird ermöglicht durch die Förderung Produzieren unter Coronabedingungen des Dachverbandes freie darstellende Künste Hamburg, im Auftrag der Freien und Hansestadt Hamburg, Behörde für Kultur und Medien, der Nachwuchsförderung der Kulturbehörde Hamburg sowie der Hamburgischen Kulturstiftung. 
Gesponsert durch Firstrow.

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