Die aktuelle Kritik

Figurentheater Chemnitz: "Der Schimmelreiter"

Von Andreas Herrmann

Mindestens zwei Jahre Exil im Spinnbau: Neben dem Schauspiel zog auch das Chemnitzer Figurentheater in einen spannenden Industriebau mit drei Interimstheatersälen. Als erstes Stück der Puppensparte wurde dort nun „Der Schimmelreiter“ aufgeführt.

Die Produktion war als eine von sieben Premieren für ein exorbitantes Eröffnungsdoppelwochenende geplant, wovon aufgrund von Krankheitsfällen nur fünf stattfinden konnten. Zwei davon durch ungeplante Mitwirkung der jeweiligen Regisseure – nie war es leichter, zum Held des Abends zu werden! Storms Novelle in eigener Fassung von Regisseur Markus Joss wurde hingegen noch einmal um zwei Wochen verschoben. Am 8. April war es dann so weit: Die restlos ausverkaufte Vorstellung mitsamt nahezu normalem Theaterambiente fürs Publikum wurde in großer Mannschaftsstärke geboten. Dazu gehörte im Vorfeld auch jugendliches Rumgelümmel im nunmehr eigenen Foyer, wofür sich die Chemnitzer Puppenbrigade für einen flauschigen Hügel mit Kunstrasen entschied. Der neue Raum ist allerdings – genau wie die benachbarte „Ostflügel“ genannte Studiobühne des Schauspiels – völlig anders als der kleine Saal im Schauspielhaus als Heimspieldomizil strukturiert: keine klassische Bühne, sehr breit und mit zwei Säulen ausgestattet, die irgendwie zu umspielen sind.

Nun findet hier also Storms Novelle als Dorf- und Familiendrama statt: Es zeigt Hauke Haiens Weg vom fleißigen Underdog zum eigenwilligen Deichgrafen in noch rückständigen Feudalzeiten, in denen nur per Landgewinnung mehr Brot oder Fleisch erzeugt werden kann. Das Land dafür muss allerdings erst mühsam dem Meer abgerungen und durch stete Pflege zu erhalten versucht werden – wobei nichts für immer bleibt und Missgunst an der Tagesordnung steht. Haukes neue Ideen zum Deichbau und zur Abkehr von Opfermythen stoßen bei der Dorfgemeinschaft auf argen Widerstand, während privat das Prinzip Arbeit vor Familie das Seelenheil erschwert.

"Der Schimmelreiter" © Nasser Hashemi

Markus Joss, der von 2005 bis 2008 der Dresdner Puppensparte am Theater Junge Generation im legendären Rundkino vorstand, leitet seit 2013 die Abteilung „Zeitgenössische Puppenspielkunst“ an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Als Regiegast in Chemnitz liefert er neben der Bühnenidee auch die Spielfassung, die durch Brüche und Interventionen den Spagat zwischen Erbe und heutiger Sehgewohnheit wahrt und auch sprachlich nicht überstrapaziert. Er hat vier weiße Gliederpuppen von Ulrike Langenbein, dazu einen äußerst abgewrackten Schimmel als Spielzeugpferd und mit Linda Fülle und Keumbyul Lim nicht nur zwei seiner Studentinnen am Start, sondern eine insgesamt spielerisch imposante Truppe, die in klassischen Kostümen von Regina Gyr stecken. Sie werden angetrieben von Paul Acker, der noch vor seiner Jugend- eine Theaterweihe als Begleitschlagzeuger besteht und weit von der Seite her agierend, den Takt vorgibt: Wellen- und Windrauschen, Pferdegetrappel, auch dramatischer Stormsturm.

Alle anderen sind in mehreren Rollen im Einsatz: Claudia Acker ist einerseits Erzählerin, dann die erhoffte späte und etwas andere Tochter, Arne van Dorsten und Tobias Eisenkrämer spielen die Konkurrenzsituation zwischen Klein- und Großknecht, also Hauke Haien und Ole Peters, gelungen aus. Auch die Direktorin der Puppensparte, Gundula Hoffmann, spielt mit – allerdings führt sie keine Figuren und fällt untypischerweise kaum auf. Besondere Betonung hingegen erfährt die Gruselkatze. Als Geist ist sie quasi die Sündenreinkarnation des Überfliegers, gespielt von Keumbyul Lim.

"Der Schimmelreiter" © Nasser Hashemi

Die Figurenspieler*innen sind auch als Akteur*innen gefragt, denn es gibt noch weitere Spielebenen, die von Ausstatter Paul Hentze, seit 2019 ausgezeichneter Joss-Musterabsolvent, mitentworfen wurden: eine externe Lesestation als Erzählerbasis, dazu eine Hintergrundanimation für Dorfsichten und Deichreiten. Vorn wartet ein rund sechs Meter breiter Tisch als Hauptspielebene, auf und hinter dem gespielt oder per Kreide das müßige Deichbauen erklärend skizziert wird. Dieser wird immer mehr zur schiefen Ebene, denn mit dem allgewaltigen Meer, von Text und Trommelwirbel symbolisiert, spielt man nicht ungestraft … All das in zwei Stunden ohne Längen, nicht zu dramatisch, sondern lehrreich und unterhaltsam als gelungene Ensembleleistung – durchaus auch als Anregung zur Lektüre des Originals.

Die neue Exilheimat der Figurensparte im „Spinnbau“ als Teil eines markanten Gebäudekomplexes des VEB Spinnereimaschinenbaus (später „Kombinat Textima“) im Ex-Industrieviertel an der Altchemnitzer Straße atmet Industriegeschichte de luxe. Hier gründeten 1839 Götze und Hartmann ihre „Sächsische Maschinenfabrik“ und bauten in Zeiten, als Sachsen industriell führend war, erste Dampflokomotiven, Dampfmaschinen und Spinnereimaschinen. Nach der Wende anno 1990 zählte man noch 2500 volkseigene Beschäftigte, die nun ihr Ex-Werk rund 24 Jahre nach der Schließung neu entdecken können. Denn das markante Chemnitzer Schauspielhaus, als spätsozialistischer Neubau von 1980 direkt am Mahnmal für die Sowjetsoldaten gelegen, harrt derweil im Dornröschenschlaf seiner Ertüchtigung. Dafür gibt es mehrere Pläne, einen groben Voranschlag und als Mindestsumme seit 2018 fünf bewilligte Millionen – aber noch keinerlei konkrete Beschlüsse und Ausschreibungen. Der große, exklusive Plan von einem Neubau – unten im Zentrum, direkt neben der Oper – ist aus Kostengründen vom Tisch, die EU-Kulturhauptstadt 2025 steht vor der Tür.

Die Puppenspieler bieten hingegen schon bald weitere Horizonterweiterungen: per „Jahrhundertball“ als Uraufführung ab 7. Mai eine digitale Reise gen Atlantis und ab 24. Juno noch Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ – als gen 1828 rückblickendes Geistesduett zwischen Gauß und Humboldt – die Puppen von Hagen Tilp sind zu diesem edlen Behufe aus Übersee schon importiert.

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Der Schimmelreiter

Nach der Novelle von Theodor Storm

Premiere: 8. April 2022

Figurentheater Chemnitz im Spinnbau – empfohlen ab 14 Jahren

Aufführungsdauer: ca. 2:10 Stunden mit Pause

Regie, Bühne und Bühnenfassung: Markus Joss

Puppen: Ulrike Langenbein

Kostüme: Regina Gyr

Ausstattung: Paul Hentze

Dramaturgie: Friederike Spindler

Spiel: Arne van Dorsten, Tobias Eisenkrämer, Claudia Acker, Gundula Hoffmann, Linda Fülle, Keumbyul Lim, Paul Acker

Fotos: Nasser Hashemi

Nächste Vorstellungen: 28. Mai & 11. Juni 2022 (je 20 Uhr)

Netzinfos: www.theater-chemnitz.de/spielplan/detailseite/der-schimmelreiter

1 Kommentar
Peter Waschinsky
22.04.2022

Schimmelreiter

Selbstverstaendlich freut es, wenn das Chemnitzer Puppentheater (wieder ?) ein Ensemble hat, nachdem es noch vor wenigen Jahren in der Not annoncierte, gerne auch Laien zu nehmen - nach mehr als 40 Jahren Puppenspielerausbildung. Einer der dafuer Mitverantwortlichen inszeniert jetzt dort.
Auf den Fotos sieht man wieder wichtige Spieler hinter nicht ganz so wichtigen Werdin-Puppen stehen, die sind diesmal von Ulrike Langenbein. Tja bei Puppen-Oberausbilder Professor Markus Joss weiss man, was man kriegt.
Da kann man auf Marionetten, ihre Ausbildung und die von entspr. Nachwuchsdozenten gern verzichten, wie sich 2021 bei Ernst-Busch zeigte.

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